Agilität, Digitalisierung und der Wandel von Arbeit

Maurice Laßhof

(Maurice Laßhof ist Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, Mitarbeiter am Institut für Soziologie, Lehrstuhl: Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftssoziologie (Prof. Dr. Ulrich Brinkmann) der Technischen Universität Darmstadt und Mitglied des Ortsvorstands der IG Metall Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeits-, Organisations- und Protestforschung sowie Industrielle Beziehungen.

Gekürzte und geringfügig überarbeitete Version eines Vortrags, den der Autor auf der DVBS-Tagung zu moderner Arbeitsassistenz am 14./15.10.2021 in Kassel gehalten hat.)

Über den Wandel und die Zukunft der Arbeit kursieren in den aktuellen Debatten zwei prominente Begriffe: Agilität und Digitalisierung. Während die Digitalisierung in Zeiten, da der Computer in vielen Berufen als tägliches Arbeitsmittel dient, jedenfalls ansatzweise greifbar ist, verbleibt das Thema Agilität oft im Trüben.

In der Arbeitswelt hat das Thema in den letzten Jahren einen wahrhaftigen Hype erfahren und wird vor allem von Unternehmensberatungen vorangetrieben, die das Konzept in allen Bereichen verkaufen wollen – auch wenn das Ganze nicht immer sinnvoll ist und nur ansatzweise realisiert wird.

Folgt man dem Konzept der Agilität, so sollen nicht nur Unternehmen, sondern auch öffentliche Einrichtungen, Ministerien im Bundestag und Verwaltungen immer agiler organisiert werden – das betrifft auch die dort geleistete Arbeit.

Agilität - was ist das?

Ein einfache Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie haben Hunger. Als Sie an ihren Kühlschrank gehen merken Sie der Kühlschrank ist leer, denn Sie haben vergessen einzukaufen. Sie gehen zum nächsten Supermarkt, um Essen zu kaufen. Dort stehen Sie vor verschlossenen Türen, denn es ist Sonntag. Also gehen Sie zum Imbiss um die Ecke und kaufen sich was zu essen.

Genau dieses Beispiel beschreibt das, was heute unter dem prominenten Slogan „Agilität“ diskutiert wird. Sie hatten ein Problem (Hunger) und ein klares Ziel, nämlich Ihren Hunger zu stillen. Aber der Weg dahin, wie Sie das Ziel erreichen, war offen. Sie haben ihn Schritt für Schritt zurückgelegt und hier und da korrigiert – das ist Agilität.

Aber was hat das mit Arbeit zu tun? In der „Status Quo Agile“-Studie aus dem Jahr 2016/17 gaben 68 Prozent der Befragten an, dass ihre Projekte teils agil arbeiten, 20 Prozent sogar durchgängig. Lediglich 12 Prozent aller Projekte arbeiten noch ausschließlich mit konventionellen Methoden. Man erkennt klar, wohin der aktuelle Trend geht, nämlich dahin, dass auch Arbeit immer agiler wird oder werden soll.

Agile Arbeitsmethoden sind ab den 1990er Jahren in der Softwareentwicklung entstanden und erfreuen sich heute großer Beliebtheit in vielen Unternehmen – auch solchen, die nichts mit der Softwareentwicklung zu tun haben.

Den Ausgangspunkt, an dem sich agile Arbeitsmethoden orientieren, bildet heute ein Manifest, das von Softwareentwicklern und Vertreterinnen der agilen Methoden entwickelt wurde und in dem die grundlegenden Werte der Agilität definiert sind. Demnach zählen:

  1. die Individuen und Interaktion mehr als die Prozesse und Werkzeuge,
  2. ein funktionierendes Produkt bzw. Software mehr als die umfassende Dokumentation der Arbeit,
  3. die ständige Kommunikation und Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als die im Vertrag verhandelten Ziele und
  4. das ständige Reagieren auf Veränderungen mehr als das Befolgen eines strikten Plans.

Zunächst einmal meint „Agile Arbeit“, dass möglichst „agil“ auf Veränderungen und die Wünsche der Kunden bzw. die Anforderungen des Marktes reagieren. Konkret bedeutet das im Arbeitsalltag: Ein Projekt mit einem umfassenden Ziel wird in kurze Arbeitsintervalle, sogenannte Sprints, unterteilt. In regelmäßigen Abständen, d.h. täglich werden die Arbeitsergebnisse bzw. das unfertige Teil-Produkt, das in einem solchen Sprint erarbeitet wurde, von dem Team begutachtet, Arbeitsschritte, die noch zu erledigen sind, neu priorisiert und ergänzt. Das Ziel ist dabei: So schnell wie möglich dem Kunden bzw. den Nutzerinnen einen Prototyp des gewünschten Produkts vorstellen zu können (auch wenn es noch lange nicht alle Eigenschaften besitzt, die es später einmal haben soll). Dadurch können Kundinnen und Nutzer sofort Feedback geben und Veränderungswünsche äußern. Nachdem sie ihre Wünsche und Feedback geäußert haben, wird der nächste Sprint eingelegt.

Agile Teams besprechen täglich die Arbeitsschritte, die in den nächsten 24 Stunden erledigt werden sollen. Sie präsentieren sich ihre Arbeitsergebnisse und geben sich regelmäßig gegenseitiges Feedback, um ihrer Arbeit stetig zu verbessern. Das ist schon deshalb wichtig, weil in agilen Teams Beschäftigte mit unterschiedlichsten Qualifikationen und Know-how arbeiten, die alle eine unterschiedliche Sicht auf die zu erledigenden Aufgaben haben. Außerdem ist die Absprache wichtig, weil das agile Team für alle wichtigen Entscheidungen selbst verantwortlich ist. Von außen wird lediglich ein allgemeines Ziel vorgegeben – für die Umsetzung ist jedoch das agile Team allein zuständig. Deshalb ist ständige Kommunikation und Transparenz mit und gegenüber den Teamkolleginnen und -kollegen das A und O agiler Arbeit.

Das hört sich erst einmal verwirrend, abstrakt und unpräzise an. Und es fällt schwer sich darunter etwas Konkretes vorzustellen.

Gehen wir die Methode an einem Beispiel durch. Wir stellen uns vor, ein Team nutzt die agile Methode „Scrum“. Ein Scrum-Team besteht im Idealfall aus maximal 10 Mitgliedern, die innerhalb des Teams verschiedene Rollen einnehmen. Von diesen Rollen existieren drei:

  1. Der Scrum Master hat zunächst nichts mit der eigentlichen Arbeit zu tun. Er ist für die Rahmenbedingungen der verantwortlich. Er führt die Scrum-Regeln ein und überprüft deren Einhaltung. Außerdem ist er für die Beseitigung von Problemen und Hindernissen verantwortlich und soll Konflikte und Kommunikationsprobleme innerhalb des Teams lösen. Er ist sozusagen der Coach bzw. eine „dienende Führungskraft“, die dem Team zuarbeitet und es situativ führen muss.
  2. Der Product Owner ist für das Produkt, das entwickelt werden soll, verantwortlich. Er ist für das „Was“, d.h. für die Eigenschaften des Produkts zuständig. Diese Eigenschaften unterteilt der Product Owner in kleinere Aufgaben und priorisiert, welche als Erstes in sog. Sprints erledigt werden müssen. Der Product Owner plant, unterteilt und priorisiert jeden einzelnen Arbeitsschritt in einer Art Liste, dem sog. Product Backlog. Als Produktverantwortlicher hält der Product Owner regelmäßig Rücksprache mit den Kunden und Nutzerinnen, um deren Bedürfnisse und Wünsche zu verstehen und demnach die Produkteigenschaften anzupassen.
  3. Die dritte Rolle ist die der Entwicklerinnen und Entwickler. Sie sind für die Umsetzung der Anforderungen verantwortlich – und zwar in der Reihenfolge, die der Product Owner in seiner Liste (dem Product Backlog) vorgibt. Das Entwicklungsteam organisiert sich selbst. Es entscheidet selbst darüber, wie die Anforderungen, die im Product Backlog stehen, umgesetzt werden. Dabei ist eine interdisziplinäre Besetzung des Entwicklungsteams wichtig, die als Team ein breites Know-how und die Eigenschaften von Spezialistinnen als auch Generalisten vereinen.

Wie funktioniert das Arbeiten im Scrum-Modell und welche besonderen Hindernisse und Barrieren ergeben sich für blinde und sehbehinderte Beschäftigte? Kommen wir von den Rollen zu den Arbeitsphasen, die bei der Scrum-Methode durchlaufen werden.

Der Product Owner als Herr über das Produkt und Verantwortlicher für die Arbeit des Entwicklungsteams verantwortet das Product Backlog – die Liste, in der die Eigenschaften des Produkts festgelegt sind. Hier definiert und ordnet er die Anforderungen, die das Produkt erfüllen soll.

Das Entwicklungsteam verwaltet das Sprint Backlog. Dabei handelt es sich um einen Auszug aus der Liste des Product Owners, in dem das Entwicklungsteam kleine Ziele definiert (welche Eigenschaften des Produkts in der nächsten Arbeitsphase realisiert werden sollen) und sie mit zusätzlichen Informationen versieht. Dazu werden die Anforderungen in kleine Aufgaben heruntergebrochen.

Am Anfang einer jeden Arbeitsphase (einem sog. Sprint) gibt es eine Sprint-Planungsphase. Dort wird vom Team die nächste Arbeitsphase geplant und die Fragen beantwortet: Was soll im kommenden Sprint entwickelt werden? Wie soll die Arbeit im kommenden Sprint erledigt werden?

Innerhalb eines Sprints, der 1–4 Wochen dauert, werden die Teilziele aus dem Sprint Backlog vom Entwicklungsteam umgesetzt, sodass möglichst ein fertiges Zwischenprodukt bzw. ein Prototyp entsteht, der dem Kunden präsentiert werden kann.

Das Entwicklungsteam trifft sich während eines Sprints täglich, um die Arbeit der nächsten 24 Stunden zu besprechen und zu planen. Das Treffen darf maximal 15 Minuten dauern und wird – wie auch die anderen Meetings – vom Scrum Master moderiert.

Am Ende eines jeden Sprints wird ein Sprint Review abgehalten. Hier wird zusammen mit den Kundinnen, den Nutzern, dem Entwicklungsteam und dem Product Owner überprüft, ob die Zwischenziele erreicht wurden und ob das Zwischenprodukt den Erwartungen der Kunden bzw. Nutzerinnen entspricht.

So groß die Vorteile und die Flexibilität agiler Arbeitsmethoden auch sein mögen, sie sind nicht für jede Arbeit sinnvoll. Und sie werden auch nicht überall umfassend eingesetzt, sondern zum Teil nur einzelne Aspekte. Doch für unsere Diskussionen ist viel wichtiger: Agile Arbeitsmethoden setzen sich immer weiter durch und stellen blinde und sehbehinderte Beschäftigte vor große Herausforderungen, denn sie sind bei weitem nicht barrierefrei:

  • Agile Arbeitsmethoden setzen in den häufigen Meetings sehr stark auf die visuelle Darstellung der Arbeitsprozesse, der Produkteigenschaften oder den Bearbeitungsstatus. Dazu werden häufig sog. Task boards verwendet, auf denen mit Karten, Bildern oder Post-it der Projektstand und -plan abgebildet wird.
  • Bei der Planung und Arbeit werden außerdem Software und Fachanwendungen eingesetzt, die häufig nicht barrierefrei gestaltet sind und immer komplexer werden
  • Ein weiteres Problem ergibt sich dadurch, dass agile Teams (die auch nach jedem Projekt wechseln können) meist keine festen Arbeitsplätze haben, sondern sich im Sinne der Agilität – und auch, weil Unternehmen dadurch Geld sparen – Arbeitsplätze teilen (sog. Desk-sharing-Modelle).
  • Und auch die Tatsache, dass agile Arbeit darauf beruht, in permanenten Kontakt mit dem Kunden zu stehen und ihm vor Ort in Präsentationen oder anhand eines Prototyps den aktuellen Arbeitsstand zu präsentieren, stellt ein großes Hindernis dar.

Die Ergebnisse der agnes@work-Studie, bei der blinde und sehbehinderte Beschäftigte zu Problemen bei ihrer Arbeit befragt wurden, verdeutlichen Barrieren und Hindernisse, die grade bei agiler Arbeit zunehmend auftreten.

59,1 % stimmen der Aussage zu, dass die Zugänglichkeit der eingesetzten Fachanwendungen sich verschlechtert hat. Und 44,4 % stimmen der Aussage zu, dass die Zahl der Termine, zu denen sie Inhalte vor ihrem Team oder in der Öffentlichkeit präsentieren müssen, im Vergleich zu früher zugenommen hat. Sie fühlen sich beim Präsentieren unsicher, weil sie das das Gefühl haben, die Reaktionen ihres Publikums nicht einschätzen zu können. Und ein Drittel (31,4 %) gibt an, dass in ihrem Unternehmen die formelle persönliche Kommunikation an Bedeutung gewonnen hat, und sie sich beim Reden oft unsicher fühlen, weil sie nicht wissen, wie die eigene Körpersprache wirkt. Gleiches gilt für die Termine mit Kunden, die unter agilen Arbeitsmethoden zunehmen.

Und auch die zunehmende Komplexität der beruflichen Aufgaben (vor allem in agiler Arbeit) wird erkannt. So geben jeweils über 80 % der Befragten an:

  • „Ich habe mehr Online-Kommunikation mit meinen Kolleg*innen als früher“ (86,8 %; 303/349),
  • „Ich muss mich häufiger in neue Sachverhalte einarbeiten oder in neue Situationen hineindenken als früher“ (84,8 %; 295/348),
  • „Die Software, die ich einsetzen muss, ist komplexer als früher“ (84,8 %; 295/348),
  • „Meine Arbeitsaufgaben sind vielfältiger als früher“ (82,6 %; 289/350
  • „Die Anzahl der Computerprogramme, die ich benutzen muss, hat sich im Vergleich zu früher erhöht“ (82,2 %; 286/348).

All das entspricht den Entwicklungen, die durch die Verbreitung agiler Arbeitsmethoden noch weiter verstärkt werden und die vor allem blinde und sehbehinderte Beschäftigte noch mehr als nicht behinderte Kolleginnen und Kollegen betreffen.

Digitalisierung

Ich möchte den Wandel der Arbeit an einem weiteren Thema diskutieren, dass in den Beschreibungen agiler Arbeit – wenn von Software gesprochen wurde – immer wieder eingeflossen ist: die Digitalisierung von Arbeit.

Möchte man den einschlägigen Medien Glauben schenken, dann befinden wir uns in einer unaufhaltsamen Umbruchphase, in der Roboter, Künstliche Intelligenz und Algorithmen den Menschen und dessen Arbeitskraft vollends ersetzen werden. Zum Beispiel schmückte das Cover des „Spiegel“ vom 3. Juni 2016 eine übergroße Roboterhand, die einen Beschäftigten am Anzug packt und von seinem Laptop-Arbeitsplatz direkt auf die Straße befördert. Der Titel lautete: „Sie sind entlassen! Wie uns Computer und Roboter die Arbeit wegnehmen.“

Ein fast identisches Bild zierte das Cover desselben Magazins am 17. April 1978 – nur, dass der Kollege damals einen Blaumann und Arbeiterhelm trug und an einem Roboterarm sprichwörtlich in der Luft hing.

Doch ganz so düster sieht die Realität nicht aus. Das seit den 1970er Jahren gezeichnete Bild von menschenleeren Büros und Fabriken trifft in der Realität nicht zu – das haben wir grade in den Diskussionen über agile Arbeit gesehen. Aber es ist klar: Die Digitalisierung und die Neuausrichtung von Arbeit und Unternehmen spielen künftig eine immer größere Rolle, die nicht unterschätzt werden sollte. Vor allem, weil sie nicht naturläufig und in einem einseitigen Entwicklungspfad verlaufen, sondern sich vielmehr als interessen- und machtgetriebene Veränderung gestalten.

Zum Beispiel hat Sarah Nies in ihrer Studie zur Digitalisierung von Arbeit herausgearbeitet, dass Unternehmen bei der Einführung digitaler Technik vor allem vier Strategien verfolgen. Ich möchte nicht auf jede im Einzelnen eingehen, sondern vielmehr einen kurzen Überblick geben.

  1.  Arbeitskraftbezogene Strategien der Digitalisierung, die darauf zielen, Arbeitskraft zu kontrollieren und zu steuern sowie den Personaleinsatz zu koordinieren. Hierbei steht die Leistungsintensivierung der verausgabten Arbeit im Fokus des Technikeinsatzes, der zur Kontrolle, Automatisierung und Detailsteuerung dient, gleichzeitig aber auch als digital gestützte Ausweitung von Selbstorganisation fungiert.
  2.  Strategien der prozessbezogenen und systematischen Rationalisierung: Im Fokus stehen technikgetriebene Rationalisierungsprinzipien, die sich auf den betrieblichen Funktionsprozess sowie die zwischenbetrieblichen Zusammenhänge in Gänze richten, um Produktions- und Wertschöpfungsketten zu effektivieren.
  3.  Geschäfts-, Markt- und Marketingstrategien: Diese Strategien zielen auf die Positionierung auf Märkten sowie digital unterstützte Marketingstrategien.
  4. Technik- oder diskursgetriebene Digitalisierung markiert keine genuin benennbare Strategie. Vielmehr steht der marktvermittelte Konkurrenzdruck im Mittelpunkt, sodass digitale Technologien eingeführt oder auch nur eingekauft werden, um den Anschluss an die Konkurrenten nicht zu verpassen bzw. weil Unternehmen sich nach außen hin als innovativ präsentieren möchten.

Ich möchte im Folgenden vor allem auf die arbeitskraftbezogene Strategie eingehen, da diese maßgeblich auf den Wandel, die Koordination und Kontrolle von Arbeit durch Digitalisierung zielt.

Außerhalb der industriellen Arbeit zeichnet sich die Digitalisierung der Arbeit vor allem dadurch aus, dass Tätigkeiten zunehmend mit digitalen Arbeitsmitteln wie Computern, Laptops, Tablets, Smartphones und dazugehöriger Software ausgeführt werden. Das reicht von der klassischen Büroarbeit mit einem Computer, der Nutzung von Software und Cloudanwendungen wie zum Beispiel Microsoft Office, bis dahin, dass schon heute komplexere Routinetätigkeiten, wie z.B. die Erfassung, Überprüfung und Bearbeitung von Schadensmeldungen an Versicherungen von digitaler Technik und Algorithmen übernommen werden. Der Kunde trägt sein Anliegen in eine vorgefertigte Maske auf einer Webseite ein, und ein Algorithmus verarbeitet im Hintergrund die Informationen.

Schließen wir den Kreis und schauen wir die Verbindung zwischen agiler Arbeit und Digitalisierung an. Ich möchte nicht noch einmal auf die Zunahme der eingesetzten digitalen Technik und Software im agilen Arbeitsprozess eingehen, sondern darauf, welche Rolle die Digitalisierung, genauer gesagt die Metadatenkontrolle durch Algorithmen, im Hintergrund agiler Arbeit spielt.

Agile Arbeitsmethoden sind hochgradig flexibel und kreativ, innerhalb des Teams herrscht eine große Transparenz und es wird viel kommuniziert.

Allerdings ist die agile Arbeit nach außen hin für das Management eine black box. Es kann sich nie sicher sein, ob ein agiles Team gerade wirklich effizient arbeitet. Das sieht es erst am Ende, denn wenn das Management in den Arbeitsprozess von außen durch direkte Kontrolle eingreift, dann beschneidet es genau die Kreativitätsvorteile, die agile Arbeit verspricht.

Das stellt für das Management ein Problem dar, denn es muss ein Unternehmen nicht nur flexible und kreativ, sondern vor allem effizient und profitorientiert steuern.

Grade deshalb werden schon heute algorithmengesteuerte Softwareprogramme z.B. „Workplace Analytics“ von Microsoft eingesetzt, die sämtliche (Meta-)Daten und zum Teil auch personenbezogene Daten der agil arbeitenden Beschäftigten sammeln und analysieren. Dazu gehören Information wie: Wie lange haben Sie eine Excel-Datei geöffnet? Wem haben Sie wann eine Mail geschickt und was stand in der Betreffzeile? Wie viele Anschläge haben sie in einer Word-Datei pro Minute? Wie oft wurde die Maus bewegt? Welche Termine stehen in Ihrem Kalender und wo finden sie statt? Wie oft steht ein bestimmtes Wort im Gruppenprotokoll? Das Ganze geht sogar so weit, dass z.B. in Call-Centern die Mimik und die gesprochenen Worte der Beschäftigten analysiert werden, um zu kontrollieren, ob sie stets fröhlich und mit einem Lachen mit den Kunden telefonieren.

Wir sehen hier, welche direkten Kontrollpotenziale digitale Technik – neben der indirekten Steuerung – in agilen Arbeitsmethoden eröffnet. Und diese werden schon heute – oft in einer rechtlichen Grauzone und ohne Einbeziehung von Personal- und Betriebsräten – eingesetzt.

Dennoch können agile Arbeitsformen und Digitalisierung auch als Chance für eine Humanisierung der Arbeit gesehen werden. Digitale Techniken und Assistenzsysteme können Beschäftigte körperlich sowie psychisch entlasten. Agile Arbeitsmethoden versprechen außerdem einen Zugewinn an Freiheit, Eigenverantwortung und Souveränität für Beschäftigte. Das empfinden auch die blinden und sehbehinderten Beschäftigten, die in der agnes@work-Studie befragt wurden. Allerdings braucht es hierfür klare Spielregeln, eine starke demokratische Mitbestimmung auf betrieblicher und gesellschaftlicher Ebene, eine Durchsetzung von Gefährdungsbeurteilungen und Weiterbildung für Beschäftigte, Personal- und Betriebsräte. Sonst droht das Versprechen einer Humanisierung von Arbeit in das genaue Gegenteil zu kippen: Eine Verdichtung, Intensivierung und Entgrenzung sowie Überwachung von Arbeit, die körperliche und vor allem psychische Belastungen verstärken, anstatt diese zu verhindern. Das gilt besonders für blinde oder sehbehinderte Beschäftigte, die besonders von den rasanten digitalen und organisatorischen Veränderungen betroffen sind und sich mit ihren Anliegen häufig in einem betrieblichen „Einzelkampf“ befinden. Wer hier nicht über eine starke Interessenvertretung durch Schwerbehindertenvertretungen, Personal- und Betriebsräte sowie ein Netzwerk innerhalb und außerhalb des Betriebs verfügt, läuft Gefahr digital abgehängt zu werden.