„Inklusion und Barrierefreiheit sind eine Querschnittsaufgabe“

Sabine Lohner, Schwerbehindertenvertreterin beim Hessischen Rundfunk, und Oliver Nadig, Mitarbeiter beim Projekt agnes@work, über nachhaltige Barrierefreiheit in einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt und Chancen sowie Grenzen digitaler Barrierefreiheit.

Foto: Sabine Lohner
Foto: Oliver Nadig

Frau Lohner, für das Publikum bietet der Hessische Rundfunk (hr) eine breite Palette an Produkten und Dienstleistungen. Dass diese barrierefrei sein müssen, regeln der Medienstaatsvertrag und etliche weitere gesetzliche Standards. Gibt es beim hr auch Regeln für die hausinterne Barrierefreiheit?

Sabine Lohner: Wir haben seit 2015 eine Inklusionsvereinbarung mit Regelungen zur Barrierefreiheit. Diese gelten für die Bereiche Software, Information, Kommunikation und Bauen. So haben wir schon seit vielen Jahren beispielsweise unsere Aufzüge mit Sprachausgabe, Brailleschrift und Pyramidenschrift ausgestattet. Zudem gibt es inzwischen neben kontrastreichen und fühlbaren Treppenmarkierungen Aufmerksamkeitsfelder vor Treppen, Aufzügen und Treppenhäusern in langen Fluren, um sie einfacher aufzufinden. Beim Thema barrierefreie Software, Kommunikation und Information müssen die Normen und Richtlinien in jeweils gültiger Fassung beachtet werden. Wir in der Schwerbehindertenvertretung, der Personalrat und Kolleg*innen aus den Fachabteilungen setzen uns dafür ein, dass die Anforderungen an Barrierefreiheit bei Neuentwicklungen oder Software-Beschaffung berücksichtigt werden.

[1] Die Pyramidenschrift ist eine erhabene „Normalschrift“, die sowohl für sehbeeinträchtigte Menschen, die keine Brailleschrift beherrschen, als auch für Sehende verständlich ist. Aufgrund ihrer Prismenform mit einer leicht gerundeten Oberkante sind die einzelnen Buchstaben mit den Fingern tastbar.

Wie viele Beschäftigte mit Seheinschränkung arbeiten in etwa beim hr? Und wie viele Schwerbehinderte insgesamt?

Lohner: Wir haben aktuell eine Quote von 7,52 Prozent. Diese Zahl bezieht sich auf die festangestellten Kolleg*innen. Schwerbehinderte Menschen arbeiten in allen Bereichen und Vergütungsgruppen, auch sehbeeinträchtigte Menschen. Unter anderem deshalb ist die digitale Barrierefreiheit für uns als Unternehmen sehr wichtig.

Der hr möchte also räumlich wie digital barrierefrei sein.

Lohner: Genau! Von digitaler wie baulicher Barrierefreiheit profitieren alle. Beispielsweise nutzen nicht nur mobilitätseingeschränkte Menschen unsere Aufzüge, sondern Aufzüge bieten Komfort für alle Beschäftigten. Genauso nützt digitale Barrierefreiheit allen. Egal ob übersichtlich gestaltete Software, gut strukturierte Dokumente, Tastaturnavigation – davon profitieren alle! Und diejenigen, die darauf angewiesen sind, können ihre Aufgaben natürlich nur mit einer barrierefreien Software oder barrierefrei zugänglichen Dokumenten erfüllen.

Oliver Nadig: Ein weiterer Vorteil: Wenn ich als Schwerbehinderter einen Arbeitsvertrag bei einem Arbeitgeber unterschreibe, dann will ich ihm meine Arbeitsleistung zur Verfügung stellen. Ich will also meinen Job machen. Für einen schwerbehinderten Menschen stellen sich zusätzlich immer Fragen nach Barrierefreiheit und Zugänglichkeit. Aber es gibt Unternehmen, in denen die Hälfte bis Dreiviertel der Arbeitszeit eines schwerbehinderten Beschäftigten für die Schaffung eines barrierefreien Arbeitsumfeldes draufgeht. Je weiter das Unternehmen ist und inklusive Strukturen vorhält, ist das auch für mich als schwerbehinderten Bewerber ein attraktiver Arbeitgeber. Ich müsste mich im Gegensatz zu anderen Arbeitgebern gar nicht mehr so intensiv um jene Dinge kümmern, vor denen ich schon immer Angst hatte. Und ich muss nicht gegenüber Kollegen, Vorgesetzten oder SBV bei null anfangen und allen alles erklären. Wenn also ein schwerbehinderter Mensch einen so fruchtbaren Acker wie beim Hessischen Rundfunk vorfindet, macht es ihm das Leben leichter. Er kann sich mehr auf seine Arbeit konzentrieren und es macht den Arbeitgeber für neue potenzielle Beschäftigte mit Schwerbehinderung attraktiv.

Lohner: Nicht nur für schwerbehinderte Menschen. Gerade als öffentlich-rechtliches Unternehmen muss man im Vergleich zur Privatwirtschaft punkten, wo beispielsweise die Gehälter in vielen Berufsgruppen oft höher sind. Deshalb ist hier die soziale Komponente und die Haltung – zum Beispiel Inklusion als Unternehmensziel – von großer Bedeutung, auch für die Außenwirkung.

Welche Maßnahmen ergreift der hr zur hausinternen Umsetzung von Barrierefreiheit?

Lohner: Vor der hausinternen Einführung werden Anwendungen – Websites, Software, mobile Apps – anhand der Europäischen Norm EN 301 549 auf digitale Barrierefreiheit geprüft. Herstellerfirmen und Entwickler*innen werden wo nötig entwicklungsbegleitend beraten, sofern ein Produkt bei uns in Betrieb genommen werden soll, das den Anforderungen der Barrierefreiheit nicht entspricht, um so eine Verbesserung der Zugänglichkeit zu erreichen.

Nadig: Und die Person meldet Probleme und Fehler an die Hersteller zurück. Damit am Ende eine optimierte Software rauskommt.

Lohner: Richtig! Die Prüfberichte werden den Herstellerfirmen oft zur Verfügung gestellt. Dabei finden Gespräche auf Expert*innenebene statt. Daneben achten wir bei digitalen Veranstaltungen auf Zugänglichkeit für alle. Unser Anmeldeformular bietet die Möglichkeit, individuelle Bedarfe für die Veranstaltung mitzuteilen, beispielsweise eine barrierefreie Präsentation im Vorfeld, Übersetzung in Gebärdensprache oder Verbalisierung visueller Inhalte für blinde Teilnehmende. 

Welche barrierefreien Angebote gibt es für Beschäftigte mit Seheinschränkung? Und wie schätzen Sie als SBV den Umsetzungsstand ein?

Lohner: Im Bereich Bauen – also Aufzüge und Leitsysteme – haben wir bereits Verbesserungen erreicht. Benötigt werden zum Beispiel Türbeschilderungen mit Pyramiden- oder Brailleschrift, damit blinde und sehbehinderte Kolleg*innen Räume selbständig auffinden können. Wir haben mit Sprachausgabe und Brailleschrift ausgestattete Automaten zum Aufladen des Hausausweises für die bargeldlose Bezahlung in unserer Kantine.

Daneben gibt es organisatorische Maßnahmen, die für Menschen mit Behinderungen eine große Hilfe sind: Für blinde Kolleg*innen, aber auch für Menschen mit anderen Einschränkungen, haben wir in unserem Kasino die Möglichkeit geschaffen, am Platz bedient zu werden. An einem bestimmten Tisch, relativ nah an der Kasse. Natürlich kann man als blinder Gast mit Kolleg*innen an anderen Tischen essen gehen. Aber mithilfe dieses reservierten Tisches kann eben auch jeder und jede alleine zu Mittag essen.

Nadig: Das Schöne ist: Der Tisch ist nicht nur nah an der Kasse, er ist auch ganz nah am Eingang. Wenn ich also alleine dort hingehen würde, könnte ich den Tisch schnell selbständig finden.

Lohner: Das kann auch ein Anstoß für andere Unternehmen sein zu überlegen, was hilft denn Kollegen und Kolleginnen im Betrieb? Manchmal sind es kleine Maßnahmen und Hilfestellungen mit großem Nutzen. Einfach die betreffenden Personen fragen: Wie können wir euch unterstützen? Was braucht ihr? Habt ihr Ideen?

Gibt es weitere Angebote?

Lohner: Ja. Wir organisieren bei Bedarf individuelle Schulungen, zum Beispiel für neue Software oder neue Workflows, die erlernt werden müssen. Gerade im Kontext der Digitalisierung haben individuelle Schulungen, die auf die Kenntnisse der Person abgestimmt sind, sehr hohe Bedeutung und sind unerlässlich für die gleichberechtigte Teilhabe im Arbeitsleben. Aufgrund der unterschiedlichen Bedarfe sind hier individuelle Schulungen sinnvoller als Gruppenschulungen. Außerdem erstellen wir Anleitungen für Tastatur- und Screenreader-Nutzende. Diese stehen allen Kolleginnen und Kollegen im Intranet zur Verfügung. Schließlich sind sie nicht nur für Menschen mit Behinderung sinnvoll, sondern auch für viele andere, die anstatt der Maus die Tastatur nutzen.

Wie sind die Betroffenen in den Entstehungsprozess eingebunden?

Lohner: Als SBV erkundigen wir uns bei den Betroffenen regelmäßig nach ihrem Bedarf. Muss eine Anwendung neu genutzt werden, empfehlen wir eine den Bedürfnissen gerechte Schulung.

Welche Abteilungen und Gremien sind involviert?

Lohner: Eigentlich alle. Denn Inklusion und Barrierefreiheit sind eine Querschnittsaufgabe. Wir können das in unserer Inklusionsvereinbarung formulierte Unternehmensziel Inklusion nur gemeinsam erreichen. Alle Fachabteilungen und alle Kolleg*innen sind beteiligt, denn Inklusion betrifft uns alle.

Kommt es zu Konflikten zwischen einzelnen Abteilungen, beispielsweise mit der IT? Und wie werden diese gelöst?

Lohner: Oft müssen wir gemeinsam Kompromisse finden, gerade beim Thema digitale Barrierefreiheit. Nach der Barrierefreiheitsprüfung einer Anwendung schauen wir uns das Ergebnis an und entscheiden auf dieser Grundlage, was zu tun ist, damit die Anwendung im Unternehmen eingeführt werden kann. Ist eine terminlich fixierte Roadmap ausreichend, in der die Herstellerfirma festlegt, dass in einem bestimmten Zeitraum Mängel behoben werden? Das wiederum hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Bei einer Anwendung, die aktuell fünf Personen im Unternehmen nutzen, fällt die Entscheidung anders aus als bei einer Anwendung, mit der alle arbeiten. Unser Umgang damit ist also ein Stück weit eine Einzelfallentscheidung nach bestimmten Kriterien.   

Was tun Sie bei Konflikten?

Lohner: Bei Konflikten bemühen wir uns als SBV immer um Kompromisse und verlässliche schriftliche Zusagen zur Umsetzung, beispielsweise von der Herstellerfirma oder der zuständigen Entwicklungsabteilung. Eine vertrauensvolle Kooperation ist für die Zusammenarbeit wichtig.

Kürzlich war von Stellenabbau beim hr die Rede. Wirkt sich dieser auf die hausinterne Barrierefreiheit aus?

Lohner: Bei uns wird niemandem gekündigt. Wir arbeiten auf ARD-Ebene eng mit den anderen Schwerbehindertenvertretungen zusammen, um so Synergien zu nutzen und gemeinsam die Themen, die uns alle betreffen, zu bearbeiten. Wobei unsere Inklusionsvereinbarung im hr seit vielen Jahren schon die weitgehendsten Regelungen zum Themenfeld Barrierefreiheit beinhaltet.

Wie kann ein Projekt wie agnes@work den hr bei der Umsetzung nachhaltiger Barrierefreiheit unterstützen?

Lohner: Einmal bei der Beratung von Teams, in denen Menschen mit Seheinschränkung arbeiten. Indem zum Beispiel Workflows gemeinsam analysiert werden, also die Strukturierung von Arbeitsprozessen oder Ablage von Dokumenten. Oder durch Anpassung von Arbeitsabläufen, die eine bessere Teilhabe sehbeeinträchtigter Kolleg*innen ermöglichen. Oft ist den Teams das Verbesserungspotenzial nicht bewusst und dass eine Verbesserung allen zugutekommt und nicht nur, weil sie die blinde Person im Team gerade braucht. Das Wichtigste ist aber, dass das von den Betroffenen selbst gewünscht wird.   

Nadig: Im Grunde ist es so, dass eine Inklusionsvereinbarung oder allgemeine Regelungen zur Inklusion, zur Diversität und zur Barrierefreiheit oft abstrakt und technokratisch sind. Da steht ja nicht „Mensch X soll bei uns folgende Umgebung vorfinden…“, sondern es sind technische Regelwerke. Wenn aber ein schwerbehinderter Mensch zum Beispiel im hr angestellt wird, muss ja alles, was um ihn herum geplant wird, vom Menschen ausgehen. Im Grunde müsste man also alle vorhandenen Regelungen und Wünsche auf die betreffende Person zuschneiden und in ihrer Umgebung analysieren.

Beispiel: Wenn ich in anderen Unternehmen – selbstverständlich anonymisiert – vom „Blindentisch“ in der hr-Kantine erzähle, wird dort manchmal geantwortet: Das könnten wir auch machen. Aber wir haben einen blinden Mitarbeiter, der sich nicht aus seinem Schneckenhaus traut und gar keine sozialen Kontakte sucht, obwohl er die Möglichkeit dazu hätte. Manchmal sind also gar nicht die fehlenden technischen Möglichkeiten das Problem, sondern die Individualität eines behinderten Menschen, die man auf technischer Ebene gar nicht voraussehen kann. Diese Probleme entstehen unabhängig vom Stand der Barrierefreiheit eines Unternehmens. Weil wir in agnes@work individuell beim Menschen ansetzen, sagen wir, wir nehmen die technischen Regelungen und Inklusionsvereinbarungen als Background und schauen uns die Sache explizit aus dem Blickwinkel einer bestimmten Person an, bei der es an gewissen Ecken klemmt.

Lohner: Das ist ganz wichtig! Weil es zwei völlig verschiedene Ebenen sind. Die Herausforderung besteht darin: Die Betroffenen sprechen einerseits von Problemen, sind aber oft zurückhaltend, externe Unterstützung anzunehmen.

Nadig: Dazu kommt: Manche Betroffene sagen: Mein Arbeitgeber tut doch schon so viel für mich. Wenn ich jetzt noch externe Expertise – zum Beispiel die von agnes@work – dazu hole, stoße ich meinem Unternehmen fester vor den Kopf als beabsichtigt.

Lohner: Das ist eine individuelle Wahrnehmung, wo ich als Schwerbehindertenvertreterin sagen würde: Das besprechen wir zunächst mit den beteiligten Personen. Meine Erfahrung ist: Sie sind sehr offen und es besteht gar keine negative Einschätzung zu externer Expertise, wenn man die Einbeziehung begründet und ihre Vorteile darstellt.  

Herr Nadig, was bedeutet eigentlich Barrierefreiheit im Kontext mit einer Seheinschränkung?

Nadig: Abstrakt gesehen bedeutet Barrierefreiheit, dass eine Person mit Einschränkung eine Sache auffinden, wahrnehmen, verstehen und bedienen kann. Das sind die wichtigsten vier Aspekte der Barrierefreiheit. Diese kann man auf die zwei großen Bereiche Mobilität und Informationstechnik beziehungsweise digitale Barrierefreiheit anwenden. Das Schöne ist, dass diese Barrierefreiheits-Aspekte auf verschiedenen Ebenen definiert sind. Man kann das so abstrakt und allgemein sehen wie von mir gerade beschrieben. Aber wenn es um konkrete Personen mit Schwierigkeiten am Arbeitsplatz geht, muss man es aufdröseln und sagen: Was ist denn zum Beispiel ein barrierefreier Geldautomat, eine barrierefreie Wegeführung, eine barrierefreie Software oder Webseite? So kommt man von der abstrakten Ebene zu spezielleren, formatabhängigen Richtlinien und überprüfbaren Erfolgskriterien, anhand derer man die Barrierefreiheit bestimmter Produkte oder Dienstleistungen prüfen kann. Im Fall der digitalen Barrierefreiheit sind die vier wichtigsten Dinge: Hardware – zum Beispiel Automaten –, Software aller Art – sowohl für PC wie für Mobilgeräte –, Webseiten und Dokumente.

Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit ein Dokument oder eine Anwendung barrierefrei ist?

Nadig: Da kann man sich an den Leitprinzipien Wahrnehmbarkeit, Verständlichkeit und Bedienbarkeit entlanghangeln. Bei einem Dokument heißt Wahrnehmbarkeit zum Beispiel: Sämtlicher Inhalt, der zunächst einmal für die visuelle Wahrnehmung aufbereitet ist, muss natürlich für einen blinden Menschen wahrnehmbar sein. Das heißt, wenn dort Grafiken oder Formeln vorhanden sind, müssen dafür Text-Äquivalente vorliegen, also Bildbeschreibungen oder Formel-Äquivalente in Textform.

Ein Beispiel für Bedienbarkeit: Bei interaktiven Dokumenten mit verlinktem Inhaltsverzeichnis müssen die Links tastaturbedienbar sein. Sonstige Links im Dokument müssen mit der Tastatur navigierbar sein. Wenn das Dokument Formulare enthält, müssen die Formularelemente mit der Tastatur navigiert und das ganze Formular mit der Tastatur ausgefüllt werden können. Etwas abstrakter gesprochen: Bei der barrierefreien Gestaltung von Dokumenten und Webseiten ist das Mehr-Sinne-Prinzip zu beachten. Also Wahrnehmbarkeit nicht nur mit dem Auge, sondern auch zu hundert Prozent mit den Ohren oder Fingern. Bedienbarkeit nicht nur mit der Maus, sondern auch mit der Tastatur. Wenn man sich an diesen Prinzipien entlang hangelt, kann man relativ einfach für bestimmte Programme, Dokumente und Webseiten ganz konkrete Kriterien herausarbeiten.

Wichtig ist noch Verständlichkeit. Damit ist im Sinne der Barrierefreiheit nicht leichte Sprache gemeint, sondern dass die leichte Erfassbarkeit, Lesbarkeit und Wahrnehmbarkeit gesteigert wird, beispielsweise durch die Strukturierung in einem Dokument. Ein langes Dokument sollte durch Überschriften gegliedert sein, komplexe Tabellen sollten ausgezeichnete Zeilen- und Spaltenüberschriften haben. Beim Navigieren mit einem Screenreader in einer Tabelle sollten nicht nur die Zelleninhalte angesagt werden, sondern auch die Zeilen- und Spaltenüberschriften. Für Sehbehinderte sind lesbare Schriftarten, adäquate Schriftgrößen und Kontrastverhältnisse wichtig. Das gilt für Dokumente, Webseiten und Programme gleichermaßen.

Und welche „No-Gos“ verhindern Barrierefreiheit?

Nadig: Ein No-Go nach dem Mehr-Sinne-Prinzip wäre zum Beispiel ein Dokument, das eingescannt wurde und rein als Bild vorliegt, mit dem ein Screenreader nichts anfangen kann. Oder im Sinne der Bedienbarkeit eine Software, die rein auf eine Bedienung mit der Maus ausgelegt ist und bei der es für die entsprechenden Bedienvorgänge keine Tastenkombinationen gibt. Oder es gibt ein paar Tastenkombinationen, aber nicht für alle Funktionen. Oder die Tastaturbedienung ist im Vergleich zur Mausbedienung umständlich und macht ein effektives Arbeiten mit der Tastatur unmöglich.

Vor welchen Problemen stehen Unternehmen, wenn sie sich barrierefrei aufstellen wollen?

Nadig: Das größte Problem ist häufig, dass die Unternehmen keine hundertprozentige Kontrolle über ihre Software haben. Bei selbst programmierter Software ist es verhältnismäßig einfach. Wenn sie den Programmierauftrag ausschreiben lassen, können sie natürlich bestimmen, dass das Produkt barrierefrei ist. Die Wirklichkeit sieht aber oft anders aus. Als Standard wird global existierende Software genutzt, beispielsweise die Microsoft-Produkte oder im Fachanwendungsbereich sehr viel SAP. Dann muss man mit der Barrierefreiheit so leben, wie sie gegeben ist. Wenn ich also einen blinden Mitarbeiter in einem Unternehmen habe und er Schwierigkeiten mit einer bestimmten Software hat, steht es gar nicht in der Macht des Unternehmens, Barrierefreiheit herzustellen. Man kann natürlich versuchen, die Herstellerfirma zu sensibilisieren. Aber das Unternehmen kann selbst bei noch so großem Verständnis für die Probleme des Betroffenen gar nichts daran ändern. Oder wenn vor kurzem eine nicht-barrierefreie Software angeschafft wurde und es gäbe barrierefreie Alternativen, kann man natürlich nicht noch eine halbe Million Euro für diese im Nachhinein bekannt gewordene barrierefreie Alternative ausgeben.

Diese Probleme setzen voraus, dass ein Unternehmen zu hundert Prozent motiviert ist, Barrierefreiheit zu schaffen. Manchmal liegt die Herausforderung aber auch darin, die eigenen Schwierigkeiten aus der Perspektive des Sehbeeinträchtigten gegenüber seinem Arbeitgeber überhaupt darzustellen und verständlich zu machen. Bisweilen haben Arbeitgeber aber auch Verständnis- und Kommunikationsprobleme: Wenn der Mitarbeiter der erste blinde Beschäftigte ist, muss eine gemeinsame Sprache gefunden werden. Die IT-Abteilung weiß nicht immer, was Screenreader, Barrierefreiheit oder Ausklapplisten sind.  

Was bedeutet Barrierefreiheit für den Einzelnen bei seiner Arbeit im Unternehmen? Gibt es zusätzliche Aufgaben? Und wie sollte die Einführung begleitet werden?

Nadig: Wir haben bislang ausschließlich über Barrierefreiheit gesprochen. Das ist auch ein wichtiger Aspekt. Aber es gibt noch viel mehr Facetten einer gelungenen, inklusiven Teilhabe am Arbeitsleben. Angefangen bei den Arbeitsmitteln – also dem, was der Arbeitgeber zur Verfügung stellt, zum Beispiel die IT-Infrastruktur –, den Hilfsmitteln – die Hilfsmittelausstattung muss an die individuellen Bedürfnisse angepasst sein – und der Beschäftigte muss entsprechende Kompetenzen und Arbeitstechniken haben. Das kann bedeuten: Bei der Einführung einer barrierefreien Software erklärt diese sich nicht von selbst, nur weil sie barrierefrei ist. Das heißt, ein Mitarbeiter mit Seheinschränkung muss wie die übrigen Kolleg*innen auch darin geschult werden. Und diese Schulung muss wiederum auf ihn oder sie zugeschnitten sein. Es darf also kein IT-Trainer mit einer Overhead-Folie kommen und „hier, hier“ sagen, sondern er muss die Inhalte verbalisieren. Also müssen auch die Weiterbildungsmaßnahmen im Unternehmen, selbst wenn sie barrierefreie Produkte betreffen, an die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Menschen angepasst sein.

Lohner: Wobei wir beim hr versuchen, von den individuellen Hilfsmittelanpassungen möglichst wegzukommen. Weil sie aufwendig und teuer sind und man sie mit jedem Software- oder Screenreader-Update neu betrachten und oft wieder anpassen muss. Unser Ansatz ist nachhaltiger. Software soll möglichst barrierefrei eingeführt werden. Eine individuelle Screenreader-Anpassung entspricht nicht der Barrierefreiheit, es ist lediglich eine Einzelplatzlösung für eine Person und ihre aktuellen Aufgaben. Nach einem Softwareupdate kann die Person mit ihrer Sonderlösung oft nicht mehr damit arbeiten.

Was kann ein Unternehmen dann tun, um Barrierefreiheit zu fördern?

Nadig: Es muss nicht nur auf die einzelne Software achten, sondern auf die gesamte Software-Infrastruktur, auf den Unterbau. Also das Betriebssystem oder die Software-Plattform. Und wenn die Möglichkeit zum Wechsel der Plattform besteht, dann natürlich auf eine, die von sich aus Barrierefreiheit bietet, auf die andere barrierefreie Produkte aufsetzen können.

Lohner: Wobei hier zwar die technische Barrierefreiheit gegeben ist, aber häufig sehr hoher Schulungsbedarf für das gemeinsame Arbeiten mit den unterschiedlichsten Komponenten besteht. Vor dem Digitalisierungsschub der letzten drei Jahre war das nicht so. Das hat sich extrem gewandelt. Gerade die blinden und sehbehinderten Kolleginnen und Kollegen müssen sich immer wieder Neues aneignen. Das ist für viele oft schwierig und bedeutet einen sehr großen Aufwand, weil sich ständig etwas ändert.    

Herr Nadig, auch an Sie die Frage: Wie kann ein Projekt wie agnes@work den hr bei der Umsetzung nachhaltiger Barrierefreiheit unterstützen?

Nadig: Der Arbeitsauftrag von agnes@work ist zunächst ganz konkret, Personen zu unterstützen. Viele Anteile dieser Unterstützung beziehen sich ganz individuell auf den Arbeitsplatz. Dann empfehlen wir beispielsweise eine Schulung für Programme und Hilfsmittel, eine Anpassung von Programmen bei der Barrierefreiheit oder die Beschaffung eines nützlichen Hilfsmittels. Diese Dinge kann man individuell am Arbeitsplatz regeln, dazu bräuchte man den Arbeitgeber gar nicht. Erfahrungsgemäß gehen die Probleme aber oft über den Arbeitsplatz hinaus. Das heißt, irgendwann kommen die Kolleginnen und Kollegen ins Spiel oder es geht um Arbeitsprozesse. Es ist ja kein Geheimnis, dass heute die Zusammenarbeit mit anderen Menschen wichtiger wird, teilweise in Echtzeit über Videokonferenzen an denselben Dokumenten. Dann müssen diese Dokumente barrierefrei sein, ebenso die Videokonferenz-Plattform. Da geht es darum, ein Unternehmen, ein Team, eine ganze Abteilung zu beraten: Wie kriegen wir die Dokumente barrierefrei? Welche Plattform können wir einsetzen, damit der seheingeschränkte Beschäftigte möglichst viel in Echtzeit mitbekommt? Während am Arbeitsplatz selbst ganz viele Aktivitäten zur Veränderung gefragt sind, ist das beim Unternehmen oft Beratung. Von agnes@work aus können wir schwer ein ganzes Unternehmen umkrempeln oder Software umprogrammieren. Sondern je umfassender das Problem eines Beschäftigten ist – bis zum Team, zur Abteilung oder dem Gesamtunternehmen –, umso mehr können wir im Endeffekt nur sensibilisieren, beraten und versuchen, in Zusammenarbeit mit den Unterstützungsinstitutionen – insbesondere der Schwerbehindertenvertretung und Personalvertretung – dafür zu sorgen, dass zum Beispiel Inklusionsvereinbarungen auf den Weg kommen oder bestehende verbessert werden.

Zusammengefasst: Je weiter die Aktivitäten vom konkreten Arbeitsplatz weggehen, umso mehr ist schlichte Beratung oder Sensibilisierung gefragt. Dabei geht es auch um langfristige Ziele. Die kann man nur anbahnen und nicht von heute auf morgen umsetzen. Bei der Anbahnung können wir von agnes@work mit der Zielvereinbarung helfen, die konkrete Umsetzung aus Zeitgründen aber vielleicht gar nicht mehr begleiten.

Lohner: agnes@work kann im Prozess begleiten. Immer wieder auf die Veränderungen schauen, ob sie noch für den individuellen Fall passend und richtig sind.

Frau Lohner, Herr Nadig, vielen Dank für das Gespräch!     

Interview: Savo Ivanic