Agiles Arbeiten – „Schlüsselkompetenzen sind von überragender Bedeutung“

Otfrid Altfeld ist Leiter des Zentrums für berufliche Bildung und Ressortleiter focus arbeit – Zentrum für Ausbildung, Umschulung und Arbeitsmarktintegration – der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) in Marburg. agnes@work sprach mit ihm über das Thema agile Arbeit und seine Auswirkungen auf Beschäftigte mit Seheinschränkung.

Foto Otfrid Altfeld

Herr Altfeld, der Begriff „agile Arbeit“ findet immer größere Verbreitung. Was versteht man darunter?

Unter agiler Arbeit versteht man die Realisierung von Zielen mit nicht von vornherein vorgegebenen Realisierungspfaden. Wechselnde Anforderungen der Kund*innen oder anderer Interessengruppen werden in den laufenden Zielerreichungsprozess eingebaut. Entscheidungen im operativen Prozess werden nicht mehr nur top-down – also von oben nach unten –, sondern auf der operativen Ebene, beispielsweise im Team, getroffen, um die Reaktionsfähigkeit und Flexibilität zu verbessern und den „Flaschenhals“ Leitung zu entschärfen. Leitungsfunktionen werden weniger hierarchisch als unterstützend definiert. Leitende wechseln die Rollen von der anweisenden und kontrollierenden Person zur ermöglichenden Person, die die Produktivität des Teams unterstützt.

Was wird damit bezweckt?

Eine bessere Kundenorientierung, bessere Qualität der Produkte, eine höhere Flexibilität der Prozesse sowie Motivation, Identifikation und damit Produktivität der Mitarbeitenden.

Wie sehen die Folgen aus?

Es gibt weniger Routine, weniger vorstrukturierte Abläufe. Arbeit ist weniger ablauf- als zielorientiert ausgerichtet, das Arbeitsergebnis dominiert die Definition der Arbeit zunehmend im Vergleich zur Arbeitszeit.

Welche Risiken bestehen dabei?

Arbeitnehmer*innen werden zunehmend zu „Solution-Workers“, die ein Ziel selbst- und teamverantwortlich verfolgen. Arbeit wird mehr ergebnisorientiert als zeitorientiert wahrgenommen. Das kann den Erfolgsdruck erhöhen.

Agiles Arbeiten setzt stark auf visuelle Darstellungen und Werkzeuge, die meist nicht barrierefrei nutzbar sind. Wie können Beschäftigte mit Seheinschränkung dennoch mithalten?

Visualisierung ist kein Privileg agiler Arbeitsweisen und kommt bereits seit längerer Zeit im klassischen, nicht-agilen Projektmanagement und in der Prozessorganisation in Unternehmen vor. Das Thema ist also nicht neu.

Burn-Down-Charts und Kanban-Boards als berühmte Beispiele sind analoge oder digitale Werkzeuge, die bei der Arbeit unterstützen und die Zusammenarbeit organisieren. Leider sind sie nur selten barrierefrei entwickelt. Eine barrierefreie Umsetzung ist aber oft nicht problemlos möglich, weil sie nur selten als Stand-Alone-Software eingesetzt werden, sondern in agile Software oder komplexe Projektmanagement- oder Enterprise-Resource-Planning-Systeme (ERP) wie SAP eingebettet sind.

Wie kann eine Lösung aussehen?

Der Königsweg ist natürlich der Einsatz oder die Entwicklung barrierefreier Systeme, was nur selten rasch gelingen wird. Alternativ kann intensive Kommunikation mit den sehenden Kolleg*innen oder der Einsatz einer Arbeitsplatzassistenz Informationslücken überbrücken. Natürlich kann das zu informellen Abhängigkeiten führen, denen Sehende nicht oder in geringerem Maße ausgesetzt sind. Zugleich sind damit hohe Anforderungen an die von Blindheit oder Sehbehinderung betroffenen Mitarbeiter*innen hinsichtlich ihrer kommunikativen Kompetenzen oder Führungskompetenzen – etwa beim Einsatz einer Arbeitsplatzassistenz – gefragt.

Aber: Konsequentes Durchführen agiler Konzepte führt fast immer zu einem verbesserten Informationsaustausch, zum Beispiel in täglichen Scrum-Meetings. Nach unserer Erfahrung kann so ein erheblicher Teil der benötigten Informationen barrierefrei bereitgestellt werden.

Und zuletzt: Rückmeldungen unserer Partner haben uns ein wenig überrascht. Die Einbindung von Mitarbeiter*innen mit Seheinschränkung hat etwa dazu geführt, dass Team-Meetings neu konzipiert wurden und man etwa auf PowerPoint-Präsentationen verzichtet, was auch von sehenden Kolleginnen und Kollegen als Fortschritt wahrgenommen wurde. Die Schaffung inklusiver Arbeitsbedingungen hat hier tatsächlich für alle Beteiligten zu einer Verbesserung der Prozesse geführt.

Wie behandelt die blista das Thema agile Arbeit in ihrer Aus- und Weiterbildung?

Wir bilden nach den Konzepten von Scrum und eduScrum aus. Das sind agile Methoden für die Produktentwicklung und den Kompetenzerwerb. Damit fördern und fordern wir Selbstverantwortung, Bereitschaft zur Kommunikation und Transparenz sowie die Teamkompetenz. Gerade die Schlüsselkompetenzen sind in agilen Umgebungen von überragender Bedeutung und erhalten bei uns eine besondere Aufmerksamkeit. In unserer Übungsfirma com4well, die wir im Jahr 2021 als virtuelles Startup gemeinsam mit den Azubis in den Fachrichtungen E-Commerce und Büromanagement gegründet haben, werden die Kompetenzen dann auf die Probe gestellt.

Wie sieht das konkret aus?

Wir führen klassische betriebliche Prozesse durch, die nicht immer agil sein müssen. Dabei setzen wir visuelle Darstellungen taktil und auditiv um, um inklusive Settings von sehenden Ausbilder*innen und Azubis mit Sehbehinderung oder Blindheit zu schaffen. Wir haben gemeinsam mit Azubis der IT-Berufe ein barrierefreies Kanban-Board entwickelt, das leider noch zu selten operativ eingesetzt wird. Wir entwickeln aktuell einen Virtual-Reality-Raum, in dem visuelle Standards visuell, auditiv und taktil digital hergestellt und nutzbar gemacht werden. So wollen wir eine inklusive Umgebung für die Zusammenarbeit sehender und nicht oder eingeschränkt sehender Kolleg*innen erstellen.

Diversität und Inklusion als Teil der Corporate Identity sind gut fürs Image. In der Praxis scheuen viele Arbeitgeber jedoch den möglichen oder tatsächlichen Mehraufwand bei der Beschäftigung behinderter Menschen. Erst recht im Zusammenhang mit agiler Arbeit. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Dass das Image eines Unternehmens unter den Trends Diversität und Inklusion nicht gerade leidet, wenn es sie ernst nimmt, ist nicht abzustreiten. Eine Corporate Identity, die nur aus Behauptungen besteht, kann aber nicht über eine längere Zeit tragen. Unternehmen erkennen zunehmend, welche Rolle die Unternehmenskultur für die Identifikation und Motivation der Beschäftigten spielt. Unternehmensvertreter*innen sagen aber auch ganz offen, dass Diversität und Inklusion nicht zuletzt durch den Mangel an qualifiziertem Personal auf dem Arbeitsmarkt gefördert werden, weil neue und gut ausgebildete Zielgruppen erschlossen werden sollen. Da bietet sich eine Kooperation mit uns natürlich an, weil wir – aus Unternehmenssicht – die benötigten qualifizierten Fachkräfte entwickeln.

Was die Umsetzung von Inklusion im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Kolleg*innen mit Behinderungen angeht, machen wir sehr unterschiedliche Erfahrungen. Auf der einen Seite sehen wir wild entschlossene Großunternehmen, die einen internen Inklusionsfahrplan entwickelt haben oder aktuell entwickeln. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch zum Teil öffentliche Verwaltungen und Sozialunternehmen, die mit der Beschäftigung von Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung nichts anfangen wollen und ein teilweise perfides Abwehrverhalten entwickeln, das grundsätzliche Bedenken zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden lässt und die Ursachen für das vorprogrammierte Scheitern ausschließlich bei den behinderten Beschäftigten sieht. Das kann sowohl für neue Mitarbeiter*innen mit Seheinschränkung als auch für bereits Beschäftigte mit einem akuten Sehkraftverlust gelten. Ehrlich gesagt: Das hat uns schon überrascht.

Gibt es dabei einen Unterschied zwischen Klein- und Großunternehmen?

Ich vermute, dass sich große Unternehmen mit der Umsetzung häufig leichter tun als viele kleine und mittelständische, weil es in ihnen nicht selten qualifizierte Abteilungen gibt, die für die Optimierung und das Design der internen Prozesse verantwortlich sind. Dort werden die Themen Inklusion und Barrierefreiheit dann angedockt. Damit ist das wichtige Thema der Zuständigkeit schon mal geklärt. Auf solche Ressourcen können kleine und mittlere Unternehmen in der Regel nicht zurückgreifen.

Interessant sind aus unserer Sicht aber nicht selten auch Startups, für die Barrierefreiheit oft überhaupt kein Fremdwort mehr ist. Die haben im wahrsten Sinne des Wortes niedrigere Barrieren, weil sie weniger Altlasten mit sich herumschleppen: digitale und haltungsbezogene. Gleichzeitig sind sie aber auch anspruchsvoll, weil sie von vornherein agil aufgestellt sind und dies von ihren Mitarbeiter*innen ebenso erwarten.

Mitentscheidend ist aber immer, wie transparent, kommunikativ und kooperativ die Beschäftigten mit Seheinschränkung im Unternehmen auftreten, um die Unsicherheiten, die auf der anderen Seite immer vorhanden sind, aufzubrechen. Das ist eine hohe Anforderung, der man erstmal gerecht werden muss.

Eignet sich denn jede Aufgabe für agile Prozesse?

Nein! Trotz des aktuellen Hypes um neue Arbeitsformen: Viele Aufgaben eignen sich nicht für agile Umsetzungsformen. Die meisten Unternehmen arbeiten also nicht ausschließlich agil. Das heißt, die Zusammenarbeit verläuft fast immer zweigleisig: Projekte – Software, Hardware, kaufmännische Entwicklungsprojekte etc. – werden agil durchgeführt. Daneben bleibt aber die klassische nicht-agile Arbeit für den Alltag mitbestimmend. Routine- oder immer wiederkehrende Aufgaben werden außerhalb der agilen Umgebung durchgeführt. Das führt dazu, dass sich die Beschäftigten in beiden Welten auskennen müssen und den Wechsel zwischen den Welten und den damit verbundenen Vorgehensweisen hinbekommen. Dazu gehört auch eine gute Ressourcenplanung, damit die Herausforderungen der einen Tätigkeit nicht negativ auf die andere Tätigkeit wirken. Es geht also um so etwas, das wir als Work-Work-Balance bezeichnen könnten. Außerdem werden die Mitarbeitenden damit konfrontiert, dass sie unterschiedliche Aufgaben mit unterschiedlichen Kolleginnen und Kollegen durchführen. Hier spielt die soziale und vor allem kommunikative Kompetenz eine große Rolle.

Sie sind mit großen Unternehmen wie der NRW.Bank oder Siemens Healthineers vernetzt. Wie binden diese Unternehmen ihre sehbeeinträchtigten Beschäftigten in ihre agilen Prozesse ein?

Unsere Vernetzungen sind sehr erfolgreich, bestehen aber noch nicht so lange. Wir profitieren sicherlich vom schon erwähnten Mangel an qualifiziertem Personal. Die Kolleginnen und Kollegen in den Fachabteilungen der Partner gehen sehr flexibel vor. Sie bauen bei Bedarf zum Beispiel parallele Kommunikationspfade auf, wenn die bereits eingeführten Pfade für Mitarbeiter*innen mit Blindheit oder Sehbehinderung nicht funktionieren. In den parallelen Pfaden werden keine visuellen Standards verwendet, sondern es wird textlich gearbeitet. Es wird viel Wert auf ad hoc-Kommunikation gelegt, in der informell unterstützt wird. Und wir sehen – etwa bei den Siemens Healthineers und in der NRW.Bank –, dass man sich intern nicht erst „seit zwei Wochen“ darüber Gedanken macht, wie Informationen digital barrierefrei zugänglich gemacht werden können. All das ist aber nur möglich, wenn die Unternehmenskultur – die Corporate Identity – genau dies verkörpert und die Mitarbeitenden in der Zusammenarbeit mit den sehbehinderten oder blinden Kolleg*innen nicht ausbremst.

Bestehen weitere Herausforderungen?

Eine weitere Herausforderung ist das seit Beginn der Corona-Pandemie als neuer Trend auftauchende Desk-Sharing, das durch den stetigen Wechsel von Präsenz- und Fernarbeit geprägt ist und keine festen Arbeitsplätze mehr kennt. Für Mitarbeitende mit einem hohen Bedarf an Hilfsmitteln ist so etwas natürlich ein Problem. Darauf hat man bei unseren Partnern in der Form reagiert, dass ein bestimmter Anteil der zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze mit der erforderlichen Ausstattung versehen und für die Kolleg*innen mit Blindheit oder Sehbehinderung reserviert bleibt.

Bei all dem kann man kritisieren, dass die Kolleginnen und Kollegen mit Sehbeeinträchtigung strukturell nicht so vollständig eingebunden sind wie die sehenden Kolleg*innen und deswegen in einer Sonderstellung verharren. Man kann aber auch positiv bewerten, dass die Organisationen bereit sind, Workarounds, also situativ Lösungen, zu entwickeln oder zumindest zuzulassen, die eine produktive Mitarbeit ermöglichen – und das nach unserer Wahrnehmung ziemlich schnell, wertschätzend, kreativ und undogmatisch.

Können die Verantwortlichen – gerade in Großunternehmen – dabei jedem und jeder Betroffenen immer gerecht werden?

Natürlich nicht! Oft benötigen sie selbst Unterstützung, etwa bei der Einrichtung eines barrierefreien Arbeitsplatzes oder bei der operativen Einbindung der Mitarbeiter*innen mit Blindheit oder Sehbehinderung, aber auch beim Entwickeln eines Mindsets, einer Denkweise, die alte Vorurteile und Stereotype überwindet. Dann sind wir als Partnerin gefragt, die die nötigen Hilfsmittel nicht nur bereitstellt, sondern auch ihre Integration in die Arbeitsumgebung unterstützt. Da geht es um technische und datenschutz- und datensicherheitsrelevante Informationen zur eingesetzten Soft- und Hardware, um versicherungsrechtliche Fragen beim Einsatz der kostbaren Braillezeilen, aber auch um Coaching-Angebote für Fach- und Führungskräfte und Teams.

Wie wirken sich agile Prozesse auf die beteiligten Assistenzpersonen aus? Von welchen Erfahrungen können Sie berichten?

Wir haben hier – noch – keine intensiven Erfahrungen, gehen aber davon aus, dass die Assistenzpersonen mit zunehmenden Freiheitsgraden bei der Arbeitsorganisation, wie sie für agile Prozesse typisch sind, mit komplexeren Herausforderungen konfrontiert werden als in klassischen Arbeitsumgebungen. Dies gilt aber in noch stärkerem Maße für die Mitarbeitenden mit Seheinschränkung, die gegenüber der Assistenzkraft ihre Rolle als Führungskräfte ausfüllen müssen. Hier ist eine starke Abstimmung zwischen Assistenzkraft und Mitarbeiter*in nötig, damit die unterschiedlichen Rollen auch für die Kolleg*innen greifbar werden und die fachliche Kompetenz in ihrer Wahrnehmung bei dem/der Mitarbeiter*in bleibt.

Hat agiles Arbeiten auch Auswirkungen auf das Kompetenzprofil der Assistenzkräfte?

Für die Assistenzkräfte gilt ähnliches wie für die Mitarbeiter*innen: Es gibt einen geringeren Anteil an Routinetätigkeiten. Damit wird auch von den Assistenzkräften eine hohe Flexibilität erwartet, die nur möglich ist, wenn die eingesetzten Werkzeuge sicher beherrscht werden und die Bereitschaft vorhanden ist, die Prinzipien agiler Arbeit zu respektieren. Außerdem benötigt die Assistenzkraft vor allem in den zahlreichen Teamprozessen ein Gespür für die Situation. Sie muss in den richtigen Momenten eingreifen, um etwa nicht-barrierefrei präsentierte Informationen nutzbar zu machen, ohne die Rolle der Mitarbeiterin im Team zu beschädigen. Darüber hinaus muss auch über Arbeitszeiten geredet werden, die in höherem Maße als früher nicht mehr dem klassischen „from nine to five“ entsprechen.

Wie unterstützt die blista Beschäftigte in agilen Arbeitsprozessen?

Die blista bietet über ihre Beratungs- und Schulungszentren in Marburg und Frankfurt Coachings für Fach- und Führungskräfte mit Blindheit oder Sehbehinderung an, in denen alle Problemstellungen, die mit der konkreten Arbeitssituation verbunden sind, bearbeitet werden können. Das geht von Software-Updates über die Arbeitsorganisation bis hin zur teambezogenen Kommunikation und Karriereplanung. Wir sehen agile Arbeitsprozesse hier als einen Teil der Herausforderung, die die Mitarbeit von Personen mit Sehbeeinträchtigung in Unternehmen mit sich bringt. Grundsätzlich stellen agile Prozesse keine vollkommen neuen Anforderungen an die Mitarbeitenden, sie verschieben aber die Schwerpunkte.

Wir beraten und coachen aber auch Arbeitgeber, Führungskräfte und Teams, um die Zusammenarbeit mit Personen mit Seheinschränkung zu unterstützen, Vorbehalte abzubauen, Chancen zu zeigen und damit die Produktivität divers aufgestellter Arbeitsgruppen zu stärken.

Welche agilen Werkzeuge empfehlen Sie? Welche sind ungeeignet?

Microsoft Teams ist natürlich kein klassisches agiles Werkzeug, repräsentiert aber die am weitesten verbreitete digitale Arbeitsumgebung, die häufig als Kollaborationsplattform in agilen Prozessen eingesetzt wird. Wir setzen es seit Beginn der Pandemie sehr erfolgreich in der Ausbildung und in anderen Angeboten von focus arbeit ein, auch wenn wir seit geraumer Zeit nur noch selten auf Online-Meetings angewiesen sind. MS Teams ist auch für Personen mit Blindheit gut zu bedienen und hat viele Funktionen, die für die Zusammenarbeit sinnvoll genutzt werden können. Hinsichtlich der immer größer werdenden Anzahl von Apps, die im MS Teams-Ökosystem entwickelt werden, fällt es aber schwer, einen Überblick darüber zu bekommen, ob sie barrierefrei sind. Und leider tut sich Jaws offenbar noch immer schwer mit dem in MS Teams integrierten SharePoint, so dass eine gemeinsame Bearbeitung von Office-Dateien für Jaws-Nutzer noch nicht möglich ist.

Gibt es weitere Werkzeuge?

Wir haben für unser agiles Vorgehensmodell Scrum verschiedene Programme und Web-Applikationen mit unterschiedlichem Erfolg getestet, sodass wir zunächst eine Eigenentwicklung vorangetrieben haben, die ein digitales Kanban-Board barrierefrei abbildet. Auf klassische Visualisierungen von Arbeitsfortschritten wie Burn-Down-Charts verzichten wir aktuell aber grundsätzlich.

In einem unserer Evaluierungsprojekte für kommerzielle agile Software schnitt Trello mit Abstand am besten ab, wenngleich hier noch nicht alle Probleme gelöst sind. Andere Tools wie Agilo und Yodiz scheiterten nicht zuletzt wegen der Überfrachtung der grafischen Benutzeroberfläche. Neben bestehenden Barrierefreiheitsproblemen waren sie auch in der Benutzerfreundlichkeit nicht empfehlenswert. Mit Jira haben wir noch keine Erfahrungen sammeln können, hören aber von Ehemaligen, dass sein Einsatz für Personen mit Sehbeeinträchtigung nicht reibungslos funktioniert.

Empfehlen Sie besondere Hilfsmittel bei agilen Prozessen?

Empfehlungen für agile Software für Mitarbeitende mit Seheinschränkung möchte ich hier nicht abgeben, dazu reicht meine Expertise nicht aus. Sehr hilfreich ist die Verwendung von Fibonacci-Zahlen für die Bewertung von Schwierigkeitsgraden der Aufgaben etwa in Scrum. Fibonacci-Zahlen sind jene Zahlenfolge, bei der jede Zahl die Summe der beiden ihr vorangehenden Zahlen darstellt. Das hilft für eine Ersteinschätzung ungemein und bietet eine gute Grundlage für eine Gewichtung der Aufgaben und damit für eine sinnvolle Strukturierung der Prozesse.

Außerdem ist eine barrierefreie, prägnante und verlässliche Dokumentation der Anforderungen und des Arbeitsfortschritts unerlässlich, um zentrale Informationen barrierefrei zur Verfügung zu stellen. Ich empfehle auch hier die Verwendung einer zentralen Applikation wie MS Teams, die Daten und Informationen standortunabhängig – also etwa auch im Homeoffice – zur Verfügung stellt. MS Teams und Trello arbeiten gut zusammen, so dass hier beide Systeme synergetisch genutzt werden können. Bei der Verwendung von cloud-gestützten Systemen wie MS Teams muss jedoch die Kompatibilität mit der Datenschutzgrundverordnung beachtet werden.

Stichwort Eigenverantwortung: Bei der Zeiteinteilung im Vorfeld sollten Sehbeeinträchtigte die Berücksichtigung ihrer Einschränkung und des damit verbundenen zeitlichen Mehraufwandes geltend machen, oder? Auch auf die Gefahr hin, „aufzufallen“. 

Das ist natürlich ein schwieriges Thema und hängt sehr stark von der individuellen Situation ab. Werden barrierefreie und auch performant nutzbare Systeme eingesetzt, sehe ich nicht zwingend einen höheren Zeitaufwand für Mitarbeitende mit Seheinschränkung. Aber das ist natürlich auch von der Art der Tätigkeit abhängig. Ich denke, dass barrierearme Tätigkeiten wie das Programmieren und Dokumentieren per se in geringerem Maße zu Geschwindigkeitsunterschieden zwischen sehenden und seheingeschränkten Kolleg*innen führen als weniger gut strukturierte Tätigkeiten im Bereich kaufmännischer oder administrativer Beschäftigungen. Eines aber ist klar: Agiles Arbeiten ist fast immer Teamarbeit. Deswegen stellen sich hier diverse Fragen, deren Beantwortung vor allem für die Kolleginnen und Kollegen sowie den Arbeitgeber wichtig ist: Wie und warum quantifizieren Sie den angenommenen zeitlichen Mehraufwand? Pauschal geht das ja nicht, ohne – aus der Sicht des Teams und des Arbeitgebers – den eigenen Wert für das Team in Frage zu stellen. Denn: Was bedeutet der angenommene zeitliche Mehraufwand für die Zusammenarbeit? Welche Auswirkungen hat er auf das Team und dessen Produktivität? Erinnern wir uns: Aktuell beobachten wir den Trend, dass trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs, das zur allgemeinen Erfassung der Arbeitszeit verpflichtet, Arbeit von Teamkolleginnen und -kollegen und von Arbeitgebern weniger als im Betrieb verbrachte Zeit betrachtet wird als eine ergebnisorientierte Tätigkeit. Produktivität spielt also eine entscheidende Rolle.

Außerdem gilt: Ist der/die Mitarbeiter*in mit Sehbeeinträchtigung in der Lage, eigene Strategien und Prozesse zu entwickeln und durchzuführen, die möglicherweise von denen der Sehenden abweichen, aber für die Arbeit performanter sind? Und: Lässt der Arbeitgeber solche Abweichungen von den eingeführten Prozessen zu?

Und nicht zuletzt spielt natürlich der Einsatz einer Arbeitsassistenz eine große Rolle, die als Schnittstelle zu nicht-barrierefreien Ressourcen die Performance des/der Mitarbeiter*in unterstützen soll.

Sie sehen: Die Frage kann nicht mal eben so beantwortet werden, weil die Voraussetzungen seitens des/der Mitarbeiter*in und des Settings vor Ort keine pauschalen Aussagen erlauben. Hier sollte individuell bei Bedarf Unterstützung durch einen Coach angefordert werden.

Menschen sind verschieden, genauso wie ihre Ressourcen. Wo sind die Grenzen des Machbaren? Und für wen sind agile Prozesse ungeeignet?  

Die Grenzen des Machbaren liegen immer dort, wo keine nutzbaren Systeme zur Verfügung stehen. Das reicht von der eingesetzten agilen Software bis hin zu nicht barrierefreien Dokumenten und Arbeitsprozessen. Dort, wo die IT exklusiv wirkt und das in ihr steckende Potenzial als inklusives digitales Arbeitsmittel nicht umsetzt, ist produktive Zusammenarbeit kaum noch möglich. Für die Teamarbeit problematisch wirkt sich in meinen Augen darüber hinaus der Trend weg von der Braillezeile hin zum beinahe ausschließlichen Einsatz von Screenreadern aus, weil damit der für die Kommunikation im Team absolut wichtige auditive Kanal verstopft wird und nur noch eingeschränkt für die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung steht.

Wir beobachten im Rahmen unserer Arbeitserprobungen, dass nicht wenige Interessent*innen sich sehr klar in Richtung einer Tätigkeit orientieren, die in ihren Augen serielles Arbeiten und damit operative Sicherheit verspricht. Aus der Sicht des Arbeitsmarktes ist das aber nicht unproblematisch, weil solche Tätigkeiten rasch an Bedeutung und Relevanz für die Unternehmen verlieren. Mitarbeitende in diesen Beschäftigungen werden innerhalb der Organisation viel weniger wahrgenommen als ihre nicht-seriell arbeitenden Kolleginnen und Kollegen und haben entsprechend geringere Aufstiegschancen. Auch die Nachhaltigkeit der Beschäftigung ist geringer. Zudem wird auch in verwaltenden und organisierenden Tätigkeiten zunehmend auf Teamarbeit gesetzt, die sich durchaus agilen Prozessen annähert. Das entspricht einem allgemeinen Trend: Die sogenannte Generation Z erwartet selbstorganisiertes und verantwortungsvolles Arbeiten viel stärker etwa als die Generation der Boomer. Hier müssen auch wir uns als Anbieter die Frage stellen, inwieweit wir uns für die sich ändernden Anforderungen öffnen und nicht ein altes und überkommenes Bild von Arbeit mit uns herumschleppen.

Wie kann ein Projekt wie agnes@work Betroffene und Arbeitgeber beim Thema agile Arbeit unterstützen?

Indem Sie versuchen, Bedenken vor Agilität zu zerstreuen. Agiles Arbeiten kann für die Mitarbeitenden nicht nur mehr Stress bedeuten, sondern vor allem auch mehr Erfüllung durch Verantwortung und mehr Motivation durch den Abschluss von Projekten.

Indem Sie agile Arbeitsweisen praxisbezogen vermitteln. Zielgruppen sollten hier nicht nur die Betroffenen selbst, sondern zugleich auch die Arbeitsplatzassistenzen sein. Hier geht es auch um die Zusammenarbeit im Tandem und um Führungskompetenzen.

Indem Sie Unterstützung bei der Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten anbieten.

Indem Sie die Vernetzung der agil Arbeitenden unterstützen. Dazu braucht es kein neues Netzwerk-Tool, sondern es sollten bestehende Angebote wie XING oder LinkedIn genutzt werden, die eine sehr gute Anbindung an andere Netzwerke ermöglichen.

Und indem Sie auf die bestehenden Coaching-Angebote für Beschäftigte und Arbeitgeber hinweisen bzw. sie in Ihre Angebote integrieren.

Herr Altfeld, vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Savo Ivanic, Projekt agnes@work