Infobrief: Unterstützung für die erfolgreiche Interessenvertretung sehbeeinträchtigter Menschen

(Nr. 1/2023, Juli 2023)

Liebe Leserinnen und Leser,

Schwerpunkt dieses Infobriefs Interessenvertretung ist das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes. Das Gesetz wurde im April und Mai 2023 vom Deutschen Bundestag und Bundesrat beschlossen. Es soll am 1. Januar 2024 in Kraft treten. Das Gesetz will mehr Menschen mit Behinderungen in reguläre Arbeit bringen, mehr Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Arbeit halten und Menschen mit Schwerbehinderung zielgenauer unterstützen. Dr. Michael Richter, Geschäftsführer der Rechte behinderter Menschen gGmbh (rbm), informiert über die wichtigsten Änderungen und Neuerungen des Gesetzes.

Die Laufzeit des Projekts agnes@work wurde bis zum 31. Dezember 2023 verlängert. Damit erscheint im Dezember 2023 ein weiterer Infobrief Interessenvertretung.

Sie haben die bisherigen Ausgaben des Infobriefs Interessenvertretung verpasst? Hier können Sie sie nachlesen.

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Inhaltsübersicht

„Inklusiver Arbeitsmarkt“

Dr. Michael Richter, Geschäftsführer Rechte behinderter Menschen gGmbH (rbm)

Erst kürzlich wurde vom Bundestag und Bundesrat das sogenannte „Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes“ (Bundestag-Drucksache 20/5664, Bundestag-Drucksache 20/6442) beschlossen. Es tritt am 01.01.2024 in Kraft. Das Ziel ergibt sich aus dem Namen und es beinhaltet im Wesentlichen Regelungen zur Änderung insbesondere einiger Förderregularien des SGB IX. Die wichtigsten sind:

1. Die sogenannte Ausgleichsabgabe wird erhöht

Zukünftig wird für Arbeitgeber ab 60 Beschäftigte, die keinen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, eine sogenannte „vierte Staffel“ bei der Ausgleichsabgabe eingeführt. Für solche Arbeitgeber heißt das, dass sich ihre künftige Ausgleichsabgabe ab dem 01.01.2024 erhöht. Quasi im Gegenzug entfällt jedoch die Möglichkeit zur Ahndung eines Verstoßes gegen die Beschäftigungspflicht im Rahmen eines zusätzlichen Bußgeldes.

2. Konzentration der Mittel der Ausgleichsabgabe

Die Möglichkeit, Mittel aus der Ausgleichsabgabe auch für zum Beispiel Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), das heißt für Maßnahmen außerhalb der Förderung der Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt zu verwenden, wird zukünftig ausgeschlossen.

3. Einführung einer Genehmigungsfiktion für Anspruchsleistungen des Integrationsamtes

Schwerbehinderte Menschen haben unter anderem Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Arbeitsassistenz. Künftig wird eine Genehmigungsfiktion nach Ablauf von sechs Wochen gelten. Das bedeutet, dass ein Integrationsamt spätestens innerhalb von sechs Wochen über einen eingegangenen Antrag (zum Beispiel für Arbeitsassistenz) entschieden haben muss! Andernfalls gilt der Antrag als genehmigt. Dies soll den zeitnahen Abschluss des Bewilligungsverfahrens der Integrationsämter und, insbesondere mit Blick auf übliche Probezeiten, die Arbeitsfähigkeit von neu eingestellten schwerbehinderten Beschäftigten sicherstellen.

4. Aufhebung der Deckelung für den Lohnkostenzuschuss beim Budget für Arbeit

Ziel des Budgets für Arbeit ist es, durch die Kombination aus finanzieller Unterstützung an den Arbeitgeber und kontinuierlicher personeller Unterstützung am Arbeitsplatz, sozialversicherte Arbeitsmöglichkeiten auf dem „Ersten Arbeitsmarkt“ für Menschen mit Behinderungen – anstatt einer Werkstattunterbringung – zu ermöglichen. Bisher ist der beim Budget für Arbeit zu erstattende Lohnkostenzuschuss auf 40 Prozent des regelmäßigen Arbeitsentgelts begrenzt. Durch die Abschaffung der Deckelung wird sichergestellt, dass auch nach Anhebung des Mindestlohns in 2023 auf 12 Euro bundesweit der maximale Lohnkostenzuschuss gewährt werden kann.

5. Neue Zusammensetzung des Sachverständigenbeirates versorgungsmedizinische Begutachtung

Um Betroffene als Expert*innen in eigener Sache besser bei der Arbeit des „Ärztlichen Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizin“ zu berücksichtigen, wird dieser zu einem „Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizinische Begutachtung“ weiterentwickelt. Die Verbände für Menschen mit Behinderungen, die Länder sowie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) können zukünftig je sieben Mitglieder benennen. Die Partizipation behinderter Menschen in Entscheidungsprozessen wird so deutlich gestärkt.

Die vorgestellten Neuregelungen entsprechen ausnahmslos langjährigen Forderungen behinderter Menschen. Von besonderer praktischer Relevanz für unseren Personenkreis dürfte jedoch die Einführung einer zukünftigen Genehmigungsfiktion für Leistungen des Inklusionsamtes sein. Denn diese begründet die Hoffnung auf deutlich kürzere Bearbeitungszeiten, z.B. der Anträge auf eine selbstorganisierte Arbeitsassistenz, und bietet für den Fall der Nichteinhaltung immerhin die Möglichkeit, dass der Antragssteller in Vorleistung tritt und damit seine Arbeitsfähigkeit herstellen kann, ohne den Verlust seines Anspruchs fürchten zu müssen.

6. Das Gesetz in Kürze

  • Erhöhung der Ausgleichsabgabezahlung gem. § 160 SGB IX
  • Begrenzung der Mittelverwendung gem. § 216 SGB IX
  • Genehmigungsfiktion gem. § 185 Absatz 9 SGB IX
  • Erhöhung Pauschale für das Budget für Arbeit gem. § 161 SGB IX
  • Neuregelung des Sachverständigenrates gem. § 153a SGB IX

Kommentar zum „Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes“: Ambitioniertes Gesetz mit eingebauter Bremse

Christian Axnick, Projekt agnes@work

Am 13. Juni 2023 wurde das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts verkündet, das am 1. Januar 2024 in Kraft tritt. Vorgesehen sind unter anderem die Einführung einer vierten Staffel bei der Ausgleichsabgabe und die Konzentration der Mittel aus der Ausgleichsabgabe auf die Förderung der Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Daneben findet sich in Artikel 2 eine unscheinbare Formulierung, mit der die Möglichkeit, ein Bußgeld im Falle vorsätzlicher oder fahrlässiger Verletzung der Beschäftigungspflicht für schwerbehinderte Menschen zu verhängen, abgeschafft wird.

Unscheinbare Änderungen können weitreichende Folgen haben. Das lässt bereits die Begründung für diese Streichung befürchten:

„Wenn die Arbeitgeber, die keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, künftig eine erhöhte Ausgleichsabgabe zahlen müssen, hält es die Regierung für nicht mehr angemessen, die Nichtbeschäftigung zusätzlich mit einem Bußgeld zu sanktionieren.“

Das ist eine Vermischung zweier grundsätzlich verschiedener Dinge: Das Bußgeld ist eine Sanktion – etwas, das die Ausgleichsabgabe gerade nicht ist.

Wenn die Sanktion gestrichen wird, weil die Ausgleichsabgabe steigt, wird dem – oft gewollten – Missverständnis Vorschub geleistet, wonach die Zahlung der Ausgleichsabgabe von der Beschäftigungspflicht für schwerbehinderte Menschen befreie.

Der Versuch, die bisherige Durchführung des Ordnungswidrigkeitsverfahrens wirkungsvoll zu gestalten, wurde unterlassen. Statt wie bisher die Bundesagentur für Arbeit mit dieser Aufgabe zu betrauen, wäre sie besser beim Zoll angesiedelt worden. Erst wenn auf diese Weise Erfahrungen gesammelt worden wären, hätte man beurteilen können, ob die Bußgeldregelung tatsächlich so nutzlos ist, wie behauptet wurde – oder nicht vielmehr bei angemessener Durchführung Wirkung zeigt.

Es mag zunächst nicht auffallen, aber die so begründete Streichung der Bußgeldregelung legitimiert das Missverständnis vom Freikauf von der Beschäftigungspflicht für schwerbehinderte Menschen durch die Ausgleichsabgabe. Das wird den inklusiven Arbeitsmarkt gerade nicht fördern.

Woran liegt es, dass wir trotz des Engagements einzelner Unternehmen zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen in diesem Bereich mit einem strukturellen Stillstand konfrontiert sind? Möglicherweise spielen unscheinbare Klauseln wie diese dabei eine Rolle.

Rat und Hilfe

Hilfe bei Fragen zum Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts bietet die rbm – Rechte behinderter Menschen gGmbH, die Rechtsberatungsgesellschaft des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV).

Interviews: Agiles Arbeiten und Barrierefreiheit

Agiles Arbeiten und Digitalisierung sind in aller Munde. Doch wie wirkt sich dieser Trend auf Beschäftigte mit Seheinschränkung aus? Dazu hat agnes@work Otfrid Altfeld interviewt. Er ist Leiter des Zentrums für berufliche Bildung und Ressortleiter focus arbeit – Zentrum für Ausbildung, Umschulung und Arbeitsmarktintegration – der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista).
Zum Interview

Ein weiteres Interview hat agnes@work mit Sabine Lohner, Schwerbehindertenvertreterin beim Hessischen Rundfunk, und Projektmitarbeiter Oliver Nadig geführt. Sie erläutern und kommentieren die Chancen und Grenzen nachhaltiger Barrierefreiheit in einem öffentlich-rechtlichen Unternehmen.
Zum Interview

VBS-Kongress 2023

Vom 31. Juli bis 4. August 2023 findet der 37. Kongress für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik statt. Veranstaltungsort ist der Campus der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) in Marburg. Auch agnes@work ist dabei. Herbert Rüb und Oliver Nadig referieren zum Thema „Berufliche Teilhabe und Weiterbildung“. Kommen Sie gerne vorbei!

Rückblick auf die Fachtagung „Perspektiven der digitalen Arbeitswelt“

Am 25. April 2023 trafen sich über 100 Personen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Selbsthilfe zur Fachtagung „Perspektiven der digitalen Arbeitswelt – Beschäftigungs- und Weiterbildungschancen für Menschen mit Behinderungen“. Veranstaltungsort war der Festsaal der Berliner Stadtmission.

Foto: Ein Publikum auf einer Fachtagung hört einer Moderatorin zu.

Die ausführliche Tagungsdokumentation mit barrierefreien Präsentationen finden Sie auf der agnes@work Webseite.

Ein detaillierter Bericht erscheint in der nächsten Ausgabe des DVBS-Magazins „horus“, erhältlich ab 28. August 2023.

Telefonische Weiterbildungsberatung

agnes@work berät Ratsuchende zu den Themen berufliche Weiterbildung und Neuorientierung. Dazu zählen Fragen rund um Fortbildung, assistive Technologien am Arbeitsplatz oder digitale Barrierefreiheit. Das Beratungstelefon ist donnerstags von 10 bis 12 Uhr besetzt. Interessierte melden sich in dieser Zeit unter 06421 94888-33.

Quick Guides, Broschüren, Videos, E-Learnings

Die Website von agnes@work bietet viele Materialien zu den Themen berufliche Teilhabe und Barrierefreiheit in Bildung und Beruf. Beispielsweise der “Quick Guide Barrierefreie Word-Dokumente“ und der „Quick Guide Barrierefreie PowerPoint-Folien“, die Broschüre „Beratung zur beruflichen Weiterbildung und Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen“ sowie zwei Videos zur beruflichen Weiterbildung und Teilhabe.

Unsere neuen E-Learning-Kurse geben

  • Berufsberater*innen Tipps und Hinweise für die Beratung von Menschen mit Seheinschränkungen,
  • Bildungsanbietern einen Überblick, was nötig ist, um Weiterbildungsangebote barrierefrei zu gestalten und
  • allen Interessierten Einblicke und Tipps für die agile Arbeit mit Beschäftigten mit Seheinschränkung.

Linktipps