Infobrief: Unterstützung für die erfolgreiche Interessenvertretung sehbeeinträchtigter Menschen

(Nr. 1/2021, 28. Juli 2021)

Liebe Leserinnen und Leser,

in der aktuellen Ausgabe unseres Infobriefs Interessenvertretung dreht sich alles um das Thema technische Hilfsmittel für sehbeeinträchtigte Menschen. Wie sind Hilfsmittel gesetzlich definiert? Welche Hilfsmittel gibt es? Wie können sie dem Erhalt von Arbeitsplätzen dienen? Was sollten Sie über Beratungsstellen oder Rechtliches zu diesem Thema wissen? Wir verraten es Ihnen.

Sie sehen es am Absender: Unser Infobrief erscheint nun unter Federführung des Projekts agnes@work – Agiles Netzwerk für sehbeeinträchtigte Berufstätige. agnes@work wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) aus Mitteln des Ausgleichsfonds gefördert. Projektträger ist der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS), der diesen Infobrief bislang herausgab. agnes@work betreut Themen wie berufliche Teilhabe, inklusive Weiterbildung und digitale Barrierefreiheit. Ausführliche Projektinformationen finden Sie auf der agnes@work-Webseite unter www.agnes-at-work.de.

Hier können Sie auch den vierteljährlich erscheinenden Projektinfobrief abonnieren.

Mit dem neuen Herausgeber ändert sich auch die Erscheinungsweise. Sie erhalten den Infobrief Interessenvertretung künftig zweimal jährlich.

Sie haben die bisherigen Ausgaben des Infobriefs Interessenvertretung verpasst? Hier können Sie sie nachlesen.

Bitte leiten Sie diesen Infobrief an Interessierte weiter. Vielen Dank!

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Hilfsmittel und technische Hilfen

Nach dem fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) ist für die medizinische Grundversorgung die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zuständig. Dies gilt insbesondere bei Hilfsmitteln für die selbstbestimmte Lebensführung. Im Berufs- und Arbeitsleben treten die Leistungen der Krankenkasse in den Hintergrund. Hier sprechen wir eher von technischen Hilfen oder technischen Hilfsmitteln. Sie zielen darauf ab, Arbeits- oder Ausbildungsplätze zu erhalten, die Erwerbsfähigkeit langfristig zu sichern und eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes durch präventive Maßnahmen zu verhindern.

In beiden Fällen kann es sich bei Hilfsmitteln und technischen Hilfen um die gleichen Produkte handeln. Je nach Verwendungszweck sind jedoch unterschiedliche Kostenträger zuständig. Im Arbeitsleben sind meist die Integrationsämter und Rentenversicherungsträger die Leistungsträger.

Gesetzliche Grundlagen bilden die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 49, 50 SGB IX), welche die Rehabilitationsträger zahlen. Ergänzend leisten die Integrationsämter im Rahmen der Begleitenden Hilfe im Arbeitsleben (§ 185 SGB IX, in Verbindung mit § 19 und § 26 SchwbAV) für Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung oder Gleichstellung.

Weitere Informationen bietet das Portal REHADAT und die kostenlose DVBS-Broschüre „Antrag auf…“ im barrierefreien PDF-Format.

Ein möglicher Beratungsfall

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Frau M., Sachbearbeiterin in einer Behörde, kommt wegen zunehmender Sehprobleme in Ihre Beratung. Ursache ihrer Einschränkung ist ein vor Längerem diagnostizierter Grüner Star – eine krankhafte Erhöhung des Augeninnendrucks, die Frau M.s Sehschärfe kontinuierlich reduziert. Eine Augenoperation und Medikamente zeigten bislang nicht die erhoffte Wirkung. Die Folge: Frau M. hat immer mehr Probleme, Gedrucktes zu lesen, am PC-Bildschirm zu arbeiten und handschriftliche Notizen zu entziffern. Bei unveränderter Indikation wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit erblinden.

Arbeitsplatzerhalt durch Hilfsmittel

Die gute Nachricht: Frau M. kann geholfen werden. Hilfsmittel wie handliche elektronische Leselupen erleichtern das Lesen von Gedrucktem, Sprachausgaben und Vergrößerungssoftware für PC, Laptop und Tablet vereinfachen die Bildschirmarbeit, und speziell für sehbeeinträchtigte Menschen entwickelte Multifunktionsgeräte mit Diktierfunktion, Audiokalender und hörbaren Beschriftungsetiketten ersetzen Handgeschriebenes.

Rufus Witt, Blinden- und Sehbehinderten-Hilfsmittelexperte beim Portal REHADAT des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, schreibt:

Für Betroffene wie Frau M ist es wichtig, möglichst schnell kompetente Beratung zu bekommen, um den Hilfsmittelbedarf zu klären, den Umgang mit ihnen zu erlernen und somit die Möglichkeit zu schaffen, ihren Arbeitsplatz zu erhalten oder zumindest bedarfsgerecht zu modifizieren. Nur so wird ihr die Teilhabe am Arbeitsleben durch Kompensation des nachlassendem oder fehlendem Augenlichts weiterhin möglich sein.

Verzögerungen der Hilfeleistungen, die nahtlos ineinander übergreifen sollten, können schnell zu Frustration bei den behinderten Beschäftigten führen oder zu Verunsicherung bei den Arbeitgebern. Um solchen Problemen rasch vorzubeugen, hier ein kurzer Leitfaden zum Thema:

Um den Rehabilitationsbedarf der bzw. des Betroffenen einschätzen zu können, braucht es eine Diagnose des Augenarztes über eine eventuell noch vorhandene Sehfähigkeit und einen Ausblick, ob sich diese möglicherweise im Lauf der Zeit verschlechtern könnte.

Abhängig vom Grad der Sehbehinderung können ein Schwerbehindertenausweis bei der Stadt zur Vergünstigung im Nahverkehr bzw. Blinden- oder Sehbehindertengeld beim zuständigen Sozialträger beantragt werden.

Weiterhin gibt es Berufsförderungswerke für Sehbehinderte und Blinde, die entsprechende Reha-Maßnahmen zum Hilfsmitteleinsatz fördern. Hierzu gehören die gegebenenfalls nötige Orientierung mit dem Langstock, das Arbeiten mit vergrößernden Sehhilfen am PC, oder – bei zu geringem Sehrest oder kompletter Blindheit – die Nutzung eines Bildschirmausleseprogramms (eines sogenannten Screenreaders), das die Bildschirminhalte per Sprachausgabe und/oder Blindenschrift ausgibt. Auf diese Weise kann neben der behinderungsbedingt erforderlichen medizinischen Rehabilitation auch die nötige berufliche Rehabilitation bedarfsgerecht erfolgen, um die Selbständigkeit zu erhalten oder wieder herzustellen.

Eine Beratungsfachkraft eines Berufsförderungswerkes kann sich auch den vorhandenen Arbeitsplatz zusammen mit dem Ratsuchenden anschauen und weitergehende Informationen geben.

Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang die technischen Beratungsfachkräfte der regionalen Integrationsämter – insbesondere was die Finanzierung der Ausstattung von Arbeitsplätzen, die Gestaltung der Arbeitsprozesse oder sonstige Maßnahmen betrifft.

Zur Unterstützung für den Erhalt eines Beschäftigungsverhältnisses oder einer entsprechenden Modifikation besteht für den Arbeitgeber die Möglichkeit, einen Lohnkostenzuschuss zu beantragen. Auch eine Assistenz am Arbeitsplatz kann gefördert werden, wenn nach Feststellung durch die zuständigen Stellen ein Bedarf vorliegt.

Das Integrationsamt oder der je nach Beruf zuständige Rentenversicherungsträger ist für die Finanzierung nötiger Hilfsmittel am Arbeitsplatz zuständig. Die zuvor bereits erwähnten technischen Beratungskräfte erstellen in Form von Arbeitsplatzanalysen entsprechende Gutachten, um den Hilfsmittelbedarf zu ermitteln.
Um bei all diesen unterschiedlichen Abläufen bezüglich der Fördermöglichkeiten nicht den Überblick zu verlieren, gibt es darüber hinaus noch die Integrationsfachdienste, beispielsweise den Fachdienst Sehen im Rheinland. Wenn Beschäftigte eines solchen Fachdienstes von Anfang an begleitend als Beratende eingebunden werden, kann ihnen bis zum Prozessende eine koordinierende Schlüsselrolle zukommen. Sie behalten den Überblick und vermitteln zwischen dem Menschen mit Seheinschränkung, dem Arbeitgeber und weiteren Akteuren wie Kostenträgern, Gutachtern und Hilfsmittelanbietern.

Zwar bedeutet ein solcher Umbruch für jeden Menschen eine große psychische Herausforderung. Durch verständnisvolle Kolleg*innen und Vorgesetzte sowie durch einen informierten und zusammenwirkenden Unterstützungskreis aus der medizinischen und beruflichen Rehabilitation gelingt es aber durchaus, die Motivation bei den Betroffenen zu stärken und den Arbeitsplatz zu erhalten.

Typische Hilfsmittel von Blinden und Sehbehinderten am Arbeitsplatz sind:

  • Braillezeile
  • Sprachausgabe / Screenreader
  • Vergrößerungssoftware
  • Bildschirmlesegerät
  • (elektronische) Leselupe

Hilfsmittelkataloge

Diverse Internetkataloge geben einen Überblick über das vielfältige Hilfsmittelangebot:

Aus der Praxis: Videokonferenzen und Online-Seminare

von Karl Matthias Schäfer, stellvertretender Vorsitzender des Blinden- und Sehbehindertenbundes in Hessen e.V. (BSBH)

Im vergangenen Jahr waren wir in der Arbeitswelt plötzlich vor die Situation gestellt, Teambesprechungen per Videokonferenz durchführen zu müssen. Für mich war das zunächst kein Problem. Ich arbeite für ein international tätiges Unternehmen. Bei uns sind Onlinefortbildungen schon länger geübte Praxis. Die gängigen Apps für Videokonferenzen wurden während der Pandemie schnell weiterentwickelt. Erfreulich war dabei, dass bei den großen Anbietern wie Zoom, MS-Teams, WebEx etc. die barrierefreie Nutzung mitgedacht wurde. Sie sind mit Screenreadern, die den Bildschirminhalt an eine Braillezeile oder Sprachausgabe weitergeben, recht gut nutzbar. Besonders Microsoft Teams und Zoom stechen heraus, weil die wichtigsten Funktionen über Tastaturkürzel bedient werden können. So ist der schnelle Wechsel zwischen dem Ein- und Ausschalten von Mikrofon und Kamera genauso möglich wie die Nutzung der Chatfunktionen und das Teilen des Bildschirms. Auch die Screenreader-Bedienung an Geräten, die mit Touchscreen bedient werden, ist dank eingebauter Hilfstechnologie gut möglich.

Es gibt aber auch Bereiche, in denen blinde und sehbehinderte User auf Probleme stoßen. Wird in der Konferenz ein Bildschirm für eine Präsentation geteilt, so kann der Screenreader diesen Inhalt nicht auslesen und über die Braillezeile oder Sprachausgabe ausgeben. Wie in der Präsenzkonferenz sind blinde Teilnehmende also auch darauf angewiesen, dass ihnen Texte oder Präsentationen vor oder während des Meetings in einer für Screenreader auslesbaren Form zur Verfügung gestellt werden. Wird mit Begleit-Apps gearbeitet – wie Umfrage-Tools oder einer virtuellen Pinnwand -, sollte auf die Nutzung barrierefreier Programme geachtet werden.

Ein Umstand, der sich für mich als Teilnehmer an zahlreichen Onlinekonferenzen immer wieder als schwierig darstellt, ist die fehlende räumliche Wahrnehmung der Konferenzsituation. Dies wurde mir in einem Online-Vorstellungsgespräch sehr deutlich. In einem Präsenzgespräch kann ich die Situation und die Menschen in einem Raum wahrnehmen. Die Bewegungen, der Atem, Räuspern etc. sind wahrnehmbar und ich kann so ein gutes Gefühl für die Stimmung im Raum entwickeln. Im Onlinemeeting fällt diese Wahrnehmungsmöglichkeit neben der ohnehin schon fehlenden Sehfähigkeit weg. Für mich ist dies in einem Teammeeting mit mir bekannten Personen kein Problem. Ich kenne die Teilnehmenden und kann ihre verbalen Äußerungen einschätzen und die Stimmlage interpretieren. In Situationen wie einem Vorstellungsgespräch haben blinde Bewerber*innen durchaus Nachteile. Man hört meistens nur die jeweils sprechenden Personen. Die Wahrnehmung von nonverbalen Reaktionen der Beteiligten und deren Bewertung für die aktuelle Situation ist nicht möglich.

Dieser Umstand sollte allen Beteiligten, besonders in Vorstellungsgesprächen, Mitarbeiter- und Konfliktgesprächen bewusst sein.

Werden die vorgenannten Aspekte beachtet, steht einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit blinden und sehbehinderten Teilnehmenden an Onlinebesprechungen nichts im Weg.

Rat und Hilfe

Diverse Organisationen und Einrichtungen bieten Beratung und Unterstützung rund um das Thema Hilfsmittel, beispielsweise

Fortbildung / Fachtagung „Moderne Arbeitsassistenz in der modernen Arbeitswelt“

von Klaus Winger, DVBS

Arbeitsplätze und Berufstätigkeiten „enthindern“ ist eine große und wichtige Aufgabe. Gerne „schwitzen“ Unternehmen und Behörden Beschäftigte mit Behinderung aus, parken sie auf uninteressanten „Schonarbeitsplätzen“, bauen Barrieren gegen Bewerber und Bewerberinnen mit Behinderungen. Berufliche Teilhabe machen und fördern ist meist ein alltägliches, hartes Brot für Schwerbehindertenvertrauensleute (SBV). Arbeitsassistenz ist ein wesentliches Instrument der Teilhabesicherung. Manchmal reichen technische Hilfsmittel einfach nicht aus. Angesichts rasanterer Digitalisierung beobachten wir zunehmend Arbeitshemmnisse für blinde und sehbehinderte Beschäftigte, zum Beispiel durch barrierehaltige IT-Anwendungen und -Updates, aber auch neue, flagrantere Arbeitsformen. Die coronabedingten Lockdowns haben deutlich gemacht, dass die Teilhabesicherung flexibler und phantasievoller werden muss: Hilfsmittel und insbesondere Arbeitsassistenz müssen im Betrieb, im Homeoffice und bei virtueller Kooperation funktionieren.

Mit ihrer zweitägigen Fachtagung bzw. Fortbildung am 14. und 15. Oktober 2021 in Kassel wollen DVBS und PRO RETINA, Selbsthilfeorganisationen von blinden und sehbehinderten Beschäftigten, diese und ergänzende Themen aufgreifen und arbeitsplatzbezogen diskutieren. Rechtsansprüche auf Arbeitsassistenz, betrieblich und individuell passende Formen von Arbeitsassistenz, Antragstellung und Widerspruch, aber auch Auswahl geeigneten Personals, Rollenklärung, Umgang mit Konflikten und Personalführung sind Themen, die in Plenarveranstaltungen und Workshops bearbeitet werden. Fachkundige Expertinnen und Experten geben Inputs zu arbeitssoziologischen, sozial- und leistungsrechtlichen sowie personalwirtschaftlichen Fragen. Erfahrene Fachkräfte aus der Praxis diskutieren in Workshops.

Eingeladen sind insbesondere blinde und sehbehinderte Beschäftigte, SBV, Beratende, Personalverantwortliche und Leistungsträger. Die Fortbildung ist von den Integrationsämtern für Beschäftigte mit Behinderungen als förderfähig anerkannt.

Die Ausschreibung der Veranstaltung sowie das Tagungsprogramm findet sich auf der DVBS-Webseite.

Eine Anmeldung wird erwartet bis zum 16.08.2021.

Rückfragen per Mail an info@dvbs-online.de oder telefonisch unter 06421 94888-0.

Seminarankündigung

Bitte vormerken:

  • agnes@work eLearning-Seminar „Fördermöglichkeiten und -instrumente für berufliche Weiterbildungen von Beschäftigten mit einer Sehbehinderung“ am Donnerstag, 28. Oktober 2021
  • agnes@work Seminar „Inklusive Karriereplanung“ am Mittwoch und Donnerstag, 19. und 20. Januar 2022.

Programme folgen.